von Eva Filice
Ein älterer Mann stand mit einem Sonnenschirm und mit einer Kühltasche am Straßenrand. Unmissverständlich wollte er von einem Auto mitgenommen werden. Nach unserem Badeaufenthalt am Strand von Locri wollten wir den Ort Gerace im Landesinneren besichtigen. „Den Mann nehmen wir mit“, beschlossen wir kurzfristig. Als Antonio den Autostopper auf Italienisch ansprach, war dieser sichtlich überrascht und erfreut. Ich bot ihm den Beifahrersitz an, da auf der Rückbank einige Badeutensilien lagen.
Auf dem Weg nach Gerace erzählte er uns, dass er dort ein Haus habe, dass seine Familie in Turin lebe und nicht so gerne nach Kalabrien komme. Er hingegen genoss den Sommer in seiner Heimat. Er erzählte begeistert von einer Ferienwohnung im Besitz seiner Schwester. „Mit Dusche“, hob er stolz hervor und vollführte anschaulich die Bewegung der Brause. Der Mann bat Antonio langsam durch den Ort zu fahren. Durch das geöffnete Autofenster winkte er den Männern vor einer Bar zu. „Amici“, klärte er uns auf. „Ciao, Orlando!“, rief ihm einer der Männer zu. Frauen, die im Schatten vor der Haustür saßen, machte Orlando auf sich aufmerksam. Er bat uns, ihn zu seinem Haus zu bringen. Wir wollten weiter zum Castello fahren. „Ich führe euch zu der Burg, vorher möchte ich euch mein Haus zeigen.“ Es fiel uns schwer das abzulehnen. Von der Straße aus betraten wir einen kleinen niedrigen Raum. „Da wohne ich!“ Der Raum war Küche, Wohnraum und Schlafzimmer zugleich. Aus einem Küchenkasten nahm er zwei Gläser, die er mit einem Geschirrtuch reinigte. Er schenkte Limonade aus dem Kühlschrank ein. „Für besondere Gäste,“ bemerkte er stolz. Dann erzählte er von seiner Familie, von der er sich unverstanden fühlte. Das jahrzehntelange Arbeiten im Norden ließ ihn dort nicht heimisch werden. Hier in Gerace sei seine Heimat, obwohl er sich auch hier manchmal fremd fühlte.
Nebenan lag die Ferienwohnung, die er uns für den nächsten Urlaub in Kalabrien empfahl. Die Wohnung war kaum größer als Orlandos Ein-Zimmer-Haus. „Mit Dusche“, betonte er stolz. Wir versuchten seiner Freude mit Lob zu begegnen. „Complimenti!“ kam meinem italienischen Mann leichter als mir von den Lippen. Für uns unvorstellbar in dieser Enge Ferien zu verbringen oder dauerhaft hier zu wohnen. Orlando schrieb uns seine Adresse auf, damit wir ihn bei Bedarf kontaktieren könnten.
Er begleitete uns zum Castello. Laut erzählte er „Geschichten, die in keinem Buch stehen“. Wir brachten unsere Rückfahrt nach Lamezia Terme zur Sprache und bedankten uns für die Führung und die Bewirtung. Orlando bat uns, ihn zur Piazza zu bringen. Mit großem Hallo verabschiedete er sich vor den Dorfbewohnern von uns, als wären wir langjährige Freunde.
Nach dieser berührenden Begegnung fuhren wir in Richtung Meer, wo wir am menschenleeren Strand anhielten und stumm verweilten. Die Gedanken über die von uns empfundenen ärmlichen Verhältnisse, die allerdings für Orlando Glück bedeuteten, beschäftigten uns lange.
© Eva Filice 2021-06-30