von Marianna Vogt
«Ach du heilige Scheisse! Was ist das denn?» Max ging näher an die Figur heran. Vor ein paar Tagen hatte er das Holz fein säuberlich mit dem Speziallack wetterfest angepinselt.
Und nun dies? Er ging so nahe heran, bis er das Geschriebene lesen konnte: «Glarus – Bern – Basel – Herisau – Fribourg – Zürich. Wer kommt denn auf so eine Idee?» Max kratzte sich am Kopf und strich sich dann behutsam über seinen struppigen Bart.
Max griff zum Telefon und verständigte die Polizei, die wenig später bereits die Spurensicherung aufnahm. Erstaunt stellten sie fest, dass das Werk noch nicht vollendet war. Ein halbes Bein und ein Fuss waren noch nicht beschrieben. Dies war ihre Chance.Die Polizei versteckte sich im Hauseingang. Von dort hatten sie freie Sicht zur Holzfigur. Wenig später tauchte er auf. Er hatte eine Umhängetasche dabei. Er packte Spraydosen in allen Farben aus und begab sich ans Werk. Die zwei Polizeibeamten schauten ihm gelassen zu, bis er die letzte Ortschaft gesprayt hatte. Dann stürmten sie hinaus. Der eine hielt ihn fest. Der andere legte ihn in Handschellen, wie ein Schwerverbrecher. Mit dem Streifenwagen fuhren sie ihn zum nächsten Polizeiposten.
Otto wurde verhört. Er war kurz vor seiner Pension. Weil er sich weigerte, Weiterbildungskurse zu besuchen, wurde ihm gekündigt. Er musste seiner angestauten Wut Luft machen.Otto sah die Holzfigur im Hinterhof von Max. Er kaufte Spraydosen. Er erinnerte sich an die Anfangszeiten seiner Tätigkeit. Immer wieder gab es Prüfungen. Der Experte nannte eine Postleitzahl und Otto muss sie dem jeweiligen Ort zuweisen. So machte er es auch jetzt. Er dachte sich Codes aus und sprayte die dazugehörigen Ortschaften auf die Skulptur.Otto wurde für verrückt erklärt und musste für Abklärungen in die Psychiatrie.
Max tat Otto leid. Er versteigerte das Kunstwerk im Internet an den Höchstbietenden. Nach wenigen Tagen wurde eine horrende Summe geboten. Ein Hotel in einem Touristenort ersteigerte die Figur und stellte sie in der Hotellobby aus. Sie wurde zum beliebten Fotosujet.
Der Erlös überbrachte er Otto, der zwischenzeitlich als 100% zurechnungsfähig aus der Klinik entlassen wurde. Otto konnte es gar nicht glauben, dass er mit seiner Kurzschlusshandlung zu soviel Ruhm gelangte.
Geschichte fiktiv.
Titelbild: Der Träumer
Matthias Wegmann
Arty Show – Kunst im Schaufenster – in der Altstadt von Aarau
Des Künstlers Ziel ist, die speziellen Konturen von Skulpturen von Aarauer Denkmäler zu analysieren und neu zu interpretieren. Fluss der Wörter, die gewollt oder automatisch generiert werden.
Von 1972 bis 2007 thronte die Bronzeplastik des Bildhauers Ernst Suter, «der Träumer», über dem Bahnhofplatz, musste dann aber dem Neubau des Bahnhofs weichen. Der «Träumer» verschwand in einem Depot. Nun steht er, als Eyecatcher, vor der renovierten Reithalle. Der «Träumer» steht nicht mehr auf einer vierkantigen Stahlsäule, sondern auf einem 5,8 Meter hohen Sichtbetonsockel.
© Marianna Vogt 2022-06-03