von Erdmann Kühn
“Übrigens, irgendwann in den Osterferien kommt die Ulli vorbei, die mit den langen, blonden Haaren, die nach Hessen gezogen ist!” Meine Eltern fragen nicht weiter nach und sagen: “Soso!” Ullis Ankunft am Abend vor Ostern bekommen sie nur halb oder gar nicht mit. Ich habe alles organisiert. Sie schläft bei mir im Zimmer im Bett meines Bruders, der im Keller wohnt.
Am Ostermorgen geht Ulli ins Badezimmer. Meine Mutter hat, wie immer, nicht abgeschlossen und steht, Choräle trällernd, unter der Dusche, als Ulli hereinkommt. Die lässt sich davon überhaupt nicht abschrecken und wünscht ihr “Frohe Ostern, Frau Kühn!”, bevor sie sich aufs Klo setzt und ein wenig mit ihr plaudert. Die beiden verstehen sich auf Anhieb blendend.
An der Osterfrühstückstafel wird schnell noch ein Teller hinzugefügt und ein Ei mehr gekocht. Auch der Rest der Familie wundert sich nicht groß über den neuen Gast. Oma fragt immer mal wieder nach: “Wer ist die hübsche junge Frau dort?”
“Das ist Ulli, Oma. Sie ist erst 15 wie ich, eine Schulfreundin!”
“Aha, eine Schulfreundin, was?” Dabei zwinkert sie mir zu. “Und die hat gar kein Zuhause?”
“Doch, Oma, in Bad Nauheim. Da wohnt sie nämlich. Findest du sie denn nett?”
Oma tätschelt meinen Arm und grinst verschwörerisch:“Sehr nett, reizendes Mädchen!”
Ulli macht alles mit, Ostereier suchen, Kahnfahren auf dem Heiligensee, auf Bäume klettern mit meinem kleinen Bruder. Ulli ist so, wie ich mir immer einen besten Kumpel vorgestellt habe. Sie ist an allem interessiert, was ich mache. Wir diskutieren den ganzen Abend Religion, Musik, Gesellschaftsveränderung und das Leben als solches. Am Lagerfeuer im Garten am See singen wir Donovan, Cat Stevens, Bob Dylan und natürlich Dona dona zur Gitarre. Als wir ins nachtschlafende Haus schleichen, kocht Ulli einen Schokopudding. Den essen wir im Keller und lesen uns alte Briefe vor. Bis wir den rötlichen Schein am Firmament draußen bemerken.
Wir ziehen die Jacken an und fahren mit den Fahrrädern zur großen Düne am Waldrand. Ich habe noch nie so bewusst erlebt, wie die Natur erwacht. Es ist magisch, die Stille, das zarte Morgenlicht, das Gräser, Sträucher, Bäume auf eine ganz eigene, sanfte Art berührt. Unwillkürlich halten wir den Atem an und lauschen. Hören Vögel zwitschern und jubeln, während die Sonnenstrahlen immer mehr Kraft bekommen und Wärme. Im Unterholz rascheln Tiere, plötzlich schießt ein Reh quer über die Lichtung, verharrt dann mitten in der Bewegung, schnuppert, dreht den Kopf und sieht uns lange an, ehe es weiterhuscht.
Wir sind verzaubert. In Ullis Haaren und Augen spiegeln sich die Sonnenstrahlen. Wir stehen staunend, dann laufen wir, springen, tanzen über die Waldlichtung. Wir rennen um die Wette die Dünen hoch und schauen uns den jungen Morgen von oben an. Ein unglaubliches Glücksgefühl in uns. Eine selige Zuversicht: Diese Stunde, dieser Tag, dieses ganze Leben liegt vor uns und wird fantastisch!
Foto: Valerie Andrushko auf unsplash.com
© Erdmann Kühn 2021-04-04