von Sonja M. Winkler
Nur einmal den Fujiyama sehen, das ist Trudis heimliche Sehnsucht, die sie zeit ihres Lebens auf den Sankt-Nimmerleinstag verschiebt. Als sie unerwartet stirbt, ist es zu spät. Nicht aber für ihren Mann. Völlig aus der Bahn geworfen, beschließt er, seinen Sohn, der beruflich in Japan zu tun hat, zu besuchen, um Versäumtes nachzuholen. Mit Trudis flauschiger Angoraweste im Koffer macht er sich auf den Weg. Es wird eine Reise zu sich selbst. Unvergesslich: Elmar Wepper und Hannelore Elsner in „Kirschblüten“.
Als ich den Film zum ersten Mal sah, war ich zutiefst ergriffen von dieser Szene: Eine junge Japanerin, Gesicht weiß geschminkt, tanzt in einem Park, es ist die Zeit der Kirschblüte, in der Hand hält sie einen rosa Telefonhörer, die lose Schnur schwänzelt den bedächtigen Bewegungen hinterher. Sie telefoniert mit ihrer verstorbenen Mutter. Trauer, offen zur Schau getragen. Ohne Scham.
Die Doku über das Making of dieses Filmes war die nächste Offenbarung. Was ich aus dem Mund von Doris Dörrie und Elmar Wepper über ihre ganz persönliche Auseinandersetzung mit Butoh erfuhr, ließ eine heimliche Sehnsucht in mir wachsen.
Ich habe immer wieder im Leben die Erfahrung gemacht, dass sich Sehnsucht einen Weg bahnt, mühelos. Wenig Zutun ist nötig. Es gilt nur, Augen und Ohren offenzuhalten.
Für Silvester 2016 war im Schloss Drosendorf ein Tanz-Workshop angekündigt worden, eine Verschränkung von Biodanza und Butoh. Biodanza kannte ich gut, Butoh noch nicht. So kam es, dass ich mich zum Jahreswechsel im Schloss Drosendorf einquartierte und Butoh tanzen lernte. Wir erstarrten zu Eis und schmolzen, wir wirbelten wie Schneeflocken durch die Luft. Unser Körper, im Rhythmus der Natur. Im Februar 2017 inskribierte ich einen Butoh-Kurs am Universitätssportinstitut auf der Schmelz. Jeden Dienstagvormittag tanzte ich – bis Februar 2020.
Heute in der Früh, ich sitze gerade bei einer Tasse Kaffee, da erreicht mich ein WhatsApp von B. Ob ich Lust hätte, mit ihr den Setagaya-Park zu besuchen. Diese japanische Gartenanlage ist eine von mehreren in Wien. Das Kirschenhainfest auf der Donauinsel, das man jährlich um diese Zeit herum feiert, wurde coronabedingt abgesagt.
Der Setagaya-Park liegt in Döbling. Durch die verschlungenen Pfade, die die Anlage durchziehen, wird auf engstem Raum alles untergebracht, was für eine japanische Landschaft typisch ist: Quelle, plätschernder Wasserfall, Teich, Teehaus, Pagode, Laube. Mit einem Wort: das Paradies. Nur heute leider nicht. Es gab ein Gedränge, denn alle sind sie gekommen wegen der rosigen Aussichten. Ich höre schon des Dorfs Getümmel, / hier ist des Volkes wahrer Himmel. / Zufrieden jauchzet Groß und Klein: / Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.
Alle zücken ihr Smartphone und verewigen Blütenzweige da und dort. Und leider, von meinem Haiku (Einkehr, Stille, Ruh, / Kirschblüte im Paradies / färbt alles rosa) stimmt nur der Farbeindruck.
Wir flüchten in die Weinberge.
© Sonja M. Winkler 2021-04-05