Diese Geschichte ist frei erfunden. Aber sie könnte sich so an diesem Ort ereignet haben, den es wirklich gibt. Es ist ein symbolischer Ort mit einem leeren Grab, das aber bis heute gepflegt wird. Von wem auch immer. Am 19. März 1945 geschah dort etwas sehr Trauriges.
Otto B. sitzt an Weihnachten 1944 zusammen mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester und seiner Mutter in der Stube ihres kleinen Häuschens am Dorfrand. Sie singen Stille Nacht. Zwei Kerzen haben sie angezündet. Eine für den Vater, der im Winter von Stalingrad gefallen ist und die andere für den ältesten Sohn und Bruder, der sein Leben in der Normandie verlor, als am 6. Juni 1944, dem D-Day, die Alliierten landeten. Die Mutter hat einen Stollen gebacken und die drei essen schweigend Stück für Stück auf. Dann klopft es an der Tür. Ein SS-Scharführer steht dort und will Otto abholen. Er muss in den Krieg. Der Feind ist im Vormarsch. Das Vaterland und seine Stadt müssen verteidigt werden, koste es, was es wolle. Die Mutter weint und fleht den SS-Mann an, ihren Sohn zu verschonen. Der stößt sie weg und droht sie zu erschießen, sollte sie keine Ruhe geben. Otto umarmt sie, holt seine Jacke und Stiefel und geht mit dem SS-Mann los. Drei Monate später rücken die Alliierten immer näher auf Kaiserslautern zu, das durch die Bombardierungen weitgehend zerstört ist. Die Wehrmacht ist so gut wie geschlagen und nur noch SS-Verbände leisten Widerstand. Otto, der Bücher und Musik über alles liebt, hat das Schießen gelernt und wird einer Gruppe zugeteilt, die im Westen Stellung beziehen und die vorrückenden Panzer aus Richtung Landstuhl aufhalten soll. Die Gruppe besteht aus sechs Soldaten mit einer Panzerfaust und einem MG-Schützen. Sie heben einen Schützengraben aus und warten auf die Amerikaner. Gegen Mittag hören sie von Westen anrollendes Kettengerassel. Die Panzer kommen schnell. Einer bleibt ca. einhundert Meter vor dem Graben stehen. Der SS-Gruppenführer macht den Tank mit dem Fernglas aus und gibt Feuerbefehl für die Panzerfaust. Sie verfehlt ihr Ziel. Dann schießt der Panzer zurück und landet einen Treffer. Schreie sind aus dem Graben zu hören. Zerschmetterte Körper fliegen durch die Luft. Zwei US-Fernspäher pirschen sich von der Seite heran und schießen sofort, als sich zwei Soldaten aus dem Erdloch befreien. Sie sterben sofort, drei liegen schon tot im Dreck. Ein US-Soldat, ein 35 Jahre alter Fallschirmjäger aus Texas, rennt von der Seite kommend zu dem Graben und sieht, wie ein weiterer Soldat versucht zu fliehen. Er schießt und trifft Otto B. in die Brust. Dieser fällt rückwärts in den Schützengraben. Der Fallschirmjäger geht an den Rand der Grube und sieht, dass der Soldat noch lebt. Otto B. röchelt, seine runde Brille ist verrutscht. Er zittert und blutet aus dem Mund. „Oh my god“, schreit der GI. „I killed a boy, a child!“ Er springt in das Loch, holt sein Taschentuch aus der Feldjacke und versucht die Blutung zu stoppen. Er schaut weinend in das pausbäckige Gesicht des Jungen, der ums Überleben kämpft. Otto öffnet seine Augen und röchelt durch sein Blut „Papa?“ Dann stirbt Otto B.
Am 20. März 1928 wurde Otto B. geboren. Einen Tag, bevor er 17 Jahre alt geworden wäre und Kaiserslautern von den US-Truppen eingenommen wurde, verlor er sein Leben in einem Loch westlich der Stadt.
© Wolfgang-Arnold Müller 2024-12-26