von Dennis Pergul
Unter den vielen Regentropfen, die in den Gassen von Venedig fielen, waren die Tropfen auf ihren Wangen keine Rarität. Sie fielen so vielen Frauen von den Wangen und zerschellten auf den Straßen, wie ein Tropfen auf dem heißen Stein eines Ofens. Der nächtliche Wind ließ sie erstarren, kalt werden, eine Eisfläche auf ihrem Gesicht erschaffen, es war wie das schamlose Gefühl seiner Fingernägel auf ihrer Haut. Ihr hilfloses Schluchzen ging im Platschen der Wasserpfützen unter, durch die sie rannte. Verloren, verirrt, gefangen im Labyrinth des Pac-Mans. Wohin sollte sie? Nach links, nach rechts? Jede Richtung war fragwürdig, doch nicht zurück. Nur das Licht einiger Laternen führte sie durch die stürmische Nacht, wie der Leuchtturm das Schiff; der Mond hatte sie in solch einer Nacht verlassen, und selbst die Sterne wagten keinen Blick auf die grässlichen Szenen und versteckten sich im Himmelbett hinter den Decken schützender Wolken. An jeder Abzweigung prasselte sie auf eine Wand ein und spürte den Druck ihres schlaflosen, mit Adrenalin durchströmten Körper an ihren Handflächen sich auf die Ziegel übertragen, doch es war bei Weitem nicht so immens, wie seines, als er sie an die Wand drängte. Ihr warmer Atem schnaufte wie der Sekundenzeiger an seiner Armbanduhr tickte, als er sich vor ihr und mit einem Blick des Ekels an die Senkrechte lehnte und das Rot in ihren Augen zum Vorschein kommen ließ. Es brannte ein zerstörerisches Feuer in ihnen und sie verpasste ihm solch tiefe Kratzer auf seinem Gesicht, sie glichen den Adern in ihrem Augapfel. Nach einigen Ecken ertrank ihr einer High Heel im Pfützenmeer, sie humpelte fortan auf der Hälfte ihres zweiten, dessen Absatz dem Gusseisen eines Schachtdeckels zum Opfer fiel. Sie spürte den Dreck zwischen ihren Zehen und sie war innerlich erleichtert, denn es erinnerte sie daran, dass sie noch lebte.
Plötzlich erspähte sie durch den knisternden grauen Vorhang des Regens das inzwischen purpurne Leder ihres hellblauen Schuhs, den sie vor Sekunden (Minuten oder Stunden, vor drei, vier oder fünf Ecken?) verloren hatte. Sie hatte das Gefühl für Zeit und Raum verloren, sie hatte sich verloren. Sie hatte nur ihren düstersten Film noir vor Augen, der mit jeglicher Kurve nicht zu verblassen drohte und immer weiter aufgerollt wurde. Und da stand er, das Purpur in seinen Schwarzlederhandschuhen haltend, deren Nuance in die Tinte der Nacht überging, als schriebe er sie ins Himmelspapier nieder und nur er die Nacht für seine schändlichen Taten erschaffen hätte. Er leckte das Blut von den Lippen ab und sein Blick wusste sofort, worauf er fallen sollte: auf den Geist, der vor ihm stand. Sie war so blass, alle Farben verließen sie, als flößen sie mit dem Regenwasser die Kanalisation hinunter. Ein Mechanismus in ihr führte eiligst zur Kehrtwende und sie hastete an ein nahegelegenes Rankgerüst, dessen Efeu sich empor schlug. Darin sah sie die nivellierte Chance der Todeshast zu entkommen; sie kletterte um ihr Leben, packte Ranke für Ranke mit ihren zittrigen Händen und der King Kong in ihren Rippen trommelte heftigst auf ihrer Brust.
Gerade dann, als ihre abgebrochenen Fingernägel den körnigen, rauen Ziegel erspüren durften; ihr einen Hauch von Leben in die Lungen pflanzten, packte die Tintenhand sie am Knöchel und zerrte sie ins Labyrinth zurück. Ihr Schrei zerschellte im Unendlichen der Nacht, wie einer von vielen Regentropfen auf den Pflastergassen des Pac-Mans.
© Dennis Pergul 2023-05-30