von Sonja M. Winkler
Ich interpretiere Ihren Wunsch nach Unterhaltung dergestalt, dass Sie eventuell gerne ein Tanzlokal aufsuchen würden, intoniert er mit Fragezeichen. Sie nickt, er bietet ihr seinen Arm an. Und dann tanzen sie, innig, Wange an Wange. Am Ende des Films, als er ihr eine Liebeserklärung macht, wird er ihr gestehen: An jenem Abend fühlte auch ich mich wie ein Feuervogel.
Von der ersten Kameraeinstellung an, als die Reisegruppe die Tempelanlage in Paestum bestaunt, bis zum Nachspann hat mich „Brot und Tulpen“ schon damals in den Bann gezogen, vor 20 Jahren, als der Film in die Kinos kam. Bruno Ganz, Träger des Iffland-Ringes bis zu seinem Tod, besticht in der Rolle des Kellners Fernando Girasole. Sein wirklicher Name laute Sólblóm, erklärt er, isländisch für „Sonnenblume“, aber seit er in Venedig lebt, nennt er sich Girasole. Und Rosalba ist so eine Sonnenblume, die der Ehemann hat verdorren lassen.
Vorletzte Woche, als der Film im Fernsehen lief, tauchte ich tiefer ein als all die Male zuvor. Mir fiel auf, dass mich Fernandos umständliche Formulierungen ganz besonders berührten, die Art, wie er Sätze baut, behäbige Ungetüme, aber mit Bedacht gesetzt, jedes Wort, eine altertümelnde Ausdrucksweise wie aus einer anderen Zeit. Vielleicht ist es seine Art, sich nicht aufzudrängen, sich nicht anzubiedern, die mich innerlich bewegte. Diese abwartende Zurückhaltung, die etwas Nobles hat. Ich nehme an, sagt er zu Rosalba, dass Ihre 40.000 Lire keine ausreichende Summe für eine auch nur ansatzweise angemessene Unterkunft ist. Er gewährt ihr Unterschlupf in seiner Wohnung. Und sie, die Arbeit in einem Blumenladen findet, blüht auf.
Die Tulpe gilt als Frühlingsbotin. Steht stramm und reckt ihren Blütenkelch in die Höhe, brüstet sich mit ihrer Farbenpracht. In Wahrheit ist sie jedoch eine verwunschene Prinzessin des Orients, stammt sie doch aus dem Land von Tausendundeiner Nacht. Ihren lexikalischen Ursprung, der im persischen dulband liegt, teilt sie mit der abendländischen Kopfbedeckung, die aus einem kunstvoll gewundenen Tuchstreifen besteht. Tulpe und Turban entstammen derselben sprachlichen Quelle. Im 16. Jahrhundert kommt die Tulpe übers Türkische (tülbend) nach Europa, fasst sprachlich Fuß und kürt Flandern zum Zentrum für Tulpenzucht.
Fernando sieht Rosalba in die Augen und wagt eine Ferndiagnose: Ich habe den Eindruck, dass Ihr Mann kein profunder Kenner Ihrer Seele ist.
Rosalbas Seele. Die Seele eines Menschen kennenlernen, aber wie, wo sie doch schwer fassbar ist. Fernando spürt die Magie des Zwischenraums, in dem ihrer beider Seelen schweben. Sich berühren in der Sehnsucht nach Ausdehnung. Ungesagt, aber fühlbar, denn die Bestimmung der Seele ist Wachstum und Berührung.
Ein Akkordeon, das verwaist im Kasten gelegen ist, wird wieder bespielt, von Rosalba. Und Fernando singt. Und sie tanzen. Und verschmelzen bei den Klängen eines Tango. Und es wird Frühling im Herbst des Lebens.
© Sonja M. Winkler 2021-03-31