von Thomas Vitzthum
Vor kurzem hat ein Profi alle meine digitalen Fotos und Videos sortiert, die Duplikate entfernt und alles in einer gigantischen Mediathek abgespeichert. In einer ruhigen Stunde habe ich mich durch die vergangenen gut zwanzig Jahre gescrollt und ehrlicherweise beschlich mich eine altersĂŒbliche Schwermut. In unserer Familie gab es natĂŒrlich auch Urlaube am Meer, Geburtstagsfeiern und Faschingsfeste, die bildlich dokumentiert worden sind. Aber pro Semester war das in der Regel maximal einen 36er-Film, der entwickelt wurde. Bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr existieren ca. 100 Fotos, auf denen ich zu sehen, oder wo ich Teil des Events gewesen bin. Zwischen 20 und 30 habe ich offenbar nichts erlebt oder die bildlichen Erinnerungen entsorgt.
Seit der Geburt unseres Sohnes hat sich das – auch dank der digitalen Technik – radikal verĂ€ndert. Es wurde tatsĂ€chlich jeder Schritt dokumentiert und mit einer Unzahl an Fotos belegt. Elternsein will auch gelernt sein, sowohl fĂŒr ihn, als auch fĂŒr uns war alles neu. Nach seinem 14. Geburtstag wurden Fotos immer rarer, gemeinsame AusflĂŒge fanden nur mehr zufĂ€llig statt, er begann mit dem Moped die Welt zu erkunden und wurde auf das andere Geschlecht aufmerksam. Der letzte gemeinsame Familienurlaub war im Mai 2022, ein Outdoor-Weekend mit Rafting, BBQ und einem Sundowner in der Steiermark.Â
Sein nĂ€chtliches Fernbleiben wurde quasi zum Dauerzustand, der Abnabelungsprozess war voll im Gange, wir spielten in seinem Leben nur mehr eine untergeordnete Rolle. Kurz vor Weihnachten erzĂ€hlte er uns beilĂ€ufig, dass er mit seiner Freundin zusammenziehen wĂŒrde. Nach etwa einer Woche erwachte ich aus meiner Ohnmacht, sah unseren Film des Lebens an mir vorbeiziehen, die letzte Folge der Doku-Soap âMein Vater, der Heldâ war im Kasten, die Crew applaudierte.
Anfang JĂ€nner war es dann so weit: Wir luden sein bisheriges Leben ins Auto und verfrachteten es in eine ungewisse Zukunft. Mit zitternden HĂ€nden lenkte ich das GefĂ€hrt durch bedrohliche HĂ€userschluchten Wiens, misstrauisch beĂ€ugt von dunklen Gestalten mit kleinen, zĂ€hnefletschenden Hunden. Wir trugen gemeinsam die wenigen Kartons in sein neues, freundliches zu Hause, tranken eine Tasse Tee und verabschiedeten uns lĂ€chelnd auf unbestimmte Zeit.Â
Auf dem Nachhauseweg erinnerte ich mich noch an meinen Abschied von zu Hause, es waren viele GefĂŒhlszustĂ€nde im Spiel, Wehmut war aber bei beiden Parteien nicht dabei. Auch ich war 19 und begann mich – zwangslĂ€ufig – in der Arbeitswelt zu etablieren, mit jedem verdienten Schilling wurde ich ein StĂŒck erwachsener. In der Ăra vor den Mobiltelefonen war es auch nahezu unmöglich, erreicht zu werden. Es vergingen zwischen den Telefonaten mit meiner Mutter sicherlich vier bis fĂŒnf Wochen, allerdings war ich tatsĂ€chlich europaweit auf Messen unterwegs.
Bei einer roten Ampel schickte ich ihm eine Nachricht: âDu lĂ€sst mich echt mit meiner Frau sitzen?â.
Zwei Tage spĂ€ter schickte er ein lapidares âYeâ zurĂŒck.
© Thomas Vitzthum 2024-02-25