von Luise Hein
Der Sitz unter Margrit ist hart. Die Augen fallen zu. Sie kuschelt sich an Mutti, die direkt neben ihr sitzt. Papa aus der Gefangenschaft sitzt gegenüber. Gestern war er gekommen und sagte: “Ich bin dein Papa!” Margrit sagte: “Nein! Papa ist in Gefangenschaft.” Da hatte er Wasser in den Augen. Dann noch einmal schlafen. Dann der Aufbruch. Erste Zugfahrt. Ein langer Marsch. Schnee. Bäume. Knallen. Mit verklebten Wangen liegt sie wieder auf einer Holzbank. Es schneit immer noch.
Dicke Schneeflocken waren gefallen, seitdem sie den ersten Zug verlassen hatten. Ganz lange waren sie dann gelaufen. Es wurde bereits Nacht. Zu Hause hatte Mutti immer gesagt, man darf im Dunkeln nicht mehr rausgehen. Bald wusste Margrit auch, warum man das nicht durfte. Am Anfang freute sich Margrit noch über den Schnee, bis er immer höher wurde. Irgendwann bis zur Hüfte. Ihr Mantel ganz nass. Sie liefen schon so lange, dass ihr die Beine schmerzten.
Mutti merkt, dass sie nicht mehr kann und nimmt sie auf den Arm, ihr Geruch ist vertraut. Da packt Papa aus der Gefangenschaft Margrits Hüfte und setzt sie auf seine Schultern, sie müsse jetzt ganz leise werden. Er riecht bitter. Große dunkle Wesen ragen aus dem Schnee. Margrits Herz schlägt schnell, sie ist still. Mutti krault ihren Rücken.
Ein ohrenbetäubender Knall erschüttert die Dunkelheit. Papa aus der Gefangenschaft fällt in den Schnee, reißt sie und die Mutti mit. Kälte durchfährt den kleinen Körper, feuchter Atem der Mutti am Ohr. “Sei ganz leise, mein Schatz.” Margrits Tränen laufen heiß über die Wangen, kein Schluchzen entrinnt dem Kind. Ein weiterer Knall ertönt und Papa aus der Gefangenschaft hockt sich auf, hebt Margrit vom Boden und macht eine Kopfbewegung zur Mutti. Sie kriechen zu einem dunklen Stamm, ziehen sich daran hoch. Die Mutti steht vor ihr und drückt Margrit mit ihrem Körper gegen den Baum. Wieder ein Knall. Die Erwachsenen zucken. Kein Wort. Minutenlang. Getrocknete Tränen, kalte, klebrige Wangen, Brennen im Knie. Fremde Stimmen. Fremde Sprache. Der Geruch Papas aus der Gefangenschaft und der Muttis vermischen sich. Wieder ein Knall. Die fremde Sprache kommt näher. Mutti drückt sie noch fester an den Baum.
Margrit denkt an Marmeladenbrot. Von Erdbeeren aus dem Garten. Hintergrundgeräusche rauschen, versinken in Stille. Als ihre kleinen Zähnchen in die rot-süße Scheibe beißt, durchfährt ein Ruck ihren Arm. Margrit öffnet die Augen und sieht Papa aus der Gefangenschaft und Mutti in dunklen Umrissen. “Komm!” glänzen die Augen der Mutti. Sie laufen. Laufen. Laufen.
Margrit weint nicht mehr. Margrit sieht wieder Gleise. Margrit erkennt einen Zug. Einsteigen. Setzen auf eine Holzbank. Jetzt weiß sie, warum man im Dunkeln nicht rausgehen soll. Sie fragt sich, warum Papa aus der Gefangenschaft es nicht weiß. Darüber schläft sie ein. Viele Jahre später wird Lehrer Brecht ihr erklären, dass die kleine Margrit damals mit ihren Eltern in die russische Besatzungszone floh.
© Luise Hein 2022-08-21