Mein Papa ging nicht so oft zur Kirche. Er nahm mich dennoch auf lange Spaziergänge in den Wald, in die Berge oder in die Stadt. Dabei sammelten wir Birkensaft, Pilzen, Blumen, fuhren Ski oder Schlitten, aßen Eis und, da mein Papa sich stark für Geschichte interessierte, erzählte er mir dabei viel über Orte, die wir sahen.
Auf dem Weg zum Birkenwald gab es auf einer Seite einen Friedhof mit unterschiedlichen Kreuzen, wo auch meine Urgroßeltern begraben wurden. Auf der anderen Seite gab es eine Kapelle und größere quadratische Gräber. „Die sind von polnischen Menschen, die heute mal wohnten“, erklärte mir Papa. „Deren Sprache ich jetzt lerne?“, fragte ich. „Ja. Die Kirchen, die du besuchst, waren von ihnen hier gebaut und auch die Häuser in der Hauptstraße.“ Auf dem Weg in die Berge entdeckte ich auch noch ältere Gräber mit sechseckigen Sternen und seltsamen Schriften. „Die sind von Juden, die hier mal wohnten. Ihre Kirche war dort, wo wir jetzt Kulturhaus haben, wo du tanzen lernst. Die wurden im Krieg alle gefangen gehalten.”, erklärte mir Papa. „Wer hat sie denn gefangen?“, wollte ich wissen. Da fing mein Papa mit seiner Erzählung an: „Menschen aus damaligem Deutschland, die in unsere Stadt gekommen waren und glaubten, an allem Schlechten sind die Juden schuld. Sie haben einen Teil der Stadt mit Zaun abgetrennt und dort auch solche Kinder wie du eingesperrt, die dort hungern mussten. Unser Haus lag an dem Zaun. Einmal hat ein kleiner Jude in unser Haus geschlichen und hat deine Urgroßmutter nach Essen für seine Familie hinter dem Zaun gefleht. Das war hochgefährlich für Omas Familie, dem Kind zu helfen. Die damalige Regierung verlangte solche Fälle direkt zu melden. Auch die Familie deiner Oma hatte damals nicht genug zu essen, aber sie teilten das, was sie hatten und hofften, dass das Kind überlebt.“ Ich unterbrach ihn neugierig: „Und wurde es gerettet?“. Papa schüttelte den Kopf: „Nein. Alle Gefangenen wurden an einem Tag erschossen und hier begraben.” „Wie fürchterlich!“, konnte ich nur antworten. „Allerdings. Ich hoffe, das kommt nie wieder vor, dass Menschen andere unschuldige Menschen verfolgen und töten.“ Ich habe schon in Filmen gesehen, dass Menschen einander töten und wusste bereits, dass dabei die Bösen erstmal Unschuldige angreifen und dann die Superhelden kommen und diese bestrafen. Ich behauptete dann selbstbewusst: „ Die Deutschen damals … Sie waren bestimmt sehr böse. Die Oma hätte viel Angst vor denen haben müssen.“ Papas antwortete jedoch unerwartet für mich: „Sie hatten Waffen, die sehr gefährlich waren, trugen teure Uniformen und fuhren Motorräder. Alle sagten deiner Oma, sie sollte vor denen fürchten, aber immer, wenn sie die sah, gaben sie ihr Süßigkeiten und lächelten sie an. Einmal haben sie ihr ein Bilderbuch geschenkt, das deine Urgroßeltern aber zurückgegeben hatten und deiner Oma streng verboten, etwas mal von denen zu nehmen.“ Dann fragte ich empört: „Warum gaben sie dann dem jüdischen Kind nichts zu essen?“ „So war ihr Befehl”, war Papas knappe Erklärung. Da habe ich an meine Oma vor der Kirche gedacht, die sich geweigert hat, das zu tun, was ihr aufgefordert wurde. Sie hatte also Mut oder etwas anderes, was Soldaten nicht hatten. Was war das denn?
© Viktoria Rubinets 2023-08-25