Paradiesäpfel und Eierfrüchte

Sonja M. Winkler

von Sonja M. Winkler

Story

Seit Corona sehe ich mehr fern. Ein Faktum, an dem nicht zu rütteln ist. Eigentlich höre ich fern, denn meine Augen konzentrieren sich auf die flinke Fingerarbeit, die Häkelnadel und das Wachsen des Dreieckstuches in Farbverlaufswolle. Ich mag Quizsendungen. Meine Kenntnisse über Tomaten und Avocados habe ich jedoch aus einer anderen Quelle.

Ich bedaure es, dass die Museen momentan geschlossen sind, obwohl nachweislich bis jetzt keine Cluster auf Museumsbesuche zurückgeführt werden konnten. Das Kunsthistorische Museum ist derart weitläufig, dass man mit anderen Besucher*innen eh keine Tuchfühlung hat. Gott sei Dank bin ich kurz vor dem neuerlichen Lockdown noch in der Aztekenausstellung im Weltmuseum gewesen.

Die Azteken waren ein Indianerstamm in Mittelamerika, der seine Hochblüte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert hatte. Die spanischen Eroberer zerstörten ihre Hauptstadt Tenochtitlan, machten ihre Tempel dem Erdboden gleich und erbauten an dieser Stelle Mexico-City. Abgesehen von Montezumas Rache (Abhilfe schafft alles, was stopft: Bananen, Reis und Erdäpfel) hinterließen uns die Azteken eine Handvoll Lehnwörter, die mit den Spaniern den weiten Weg übers Meer antraten und in vielen europäischen Sprachen heimisch wurden, wie etwa die Tomate.

Die „Goldäpfel“ der Italiener (pomodori), die Paradiesäpfel der Deutschen und Österreichs Paradeiser kommen aus Mittelamerika. Schon die Maya kultivierten diese Pflanze, die auf Nahuatl „tomatl“ hieß. Nahuatl war die Sprache der Azteken, die, man höre und staune, heute noch etwa 1,5 Millionen Sprecher beherrschen, allerdings sind die meisten von ihnen zweisprachig.

Was wäre ein Leben ohne Milka, Lindt, Merci und Zotter. Sowohl die Schokolade (aus xocolatl) als auch den Kakao (caucaua atl), der abends so gut schmeckt mit einem Schuss Rum oder Cognac, verdanken wir den Azteken. Sie waren auch die Namengeber für den Kojoten (coyotl) und das Ozelot (ocelotl), die in unseren Breiten nicht heimisch sind.

Die Frage in der Millionenshow war nicht schwer. Welcher Beruf in der Avocado stecke, fragte Armin Assinger den Kandidaten. Nach dem Besuch der Azteken-Ausstellung musste ich natürlich ein wenig tiefer schürfen. Hier das Ergebnis: Die Bezeichnung der Avocado geht auf ein Nahuatl-Wort zurück, das auch „Hoden“ hieß (ahuacatl). Die Spanier haben, warum auch immer, eine volksetymologische Angleichung an „Advokat“ vorgenommen. Und so kam das Wort ins Deutsche. Die Übersetzung „Eierfrucht“ ist also eine entweder wörtliche Wiedergabe des Nahuatl-Wortes oder der Form der Frucht zu verdanken. Was weiß ich.

Als mein Sohn klein war, zog ich ein Avocado-Bäumchen groß. Ein Freund hatte mir gesagt, ich würde dabei Gelassenheit lernen. Ich legte den Kern in ein Gurkenglas mit Wasser und wartete, bis er barst und Wurzeln schlug. Dann übersiedelte der Kern in einen Blumentopf und trieb aus. Es stimmt. Man lernt tatsächlich das Warten. Ich wartete 70 Zentimeter.

© Sonja M. Winkler 2020-11-09

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