von Sternenkind
Wie kann sich die Welt weiterdrehen? Wie kann das funktionieren, wenn der Mensch, der mich auf diese Welt gebracht hat nicht mehr hier ist?
Ich sperre die Türe auf und ziehe meine Stiefeln an, schlüpfe in meine Jacke und nehme meine Tasche. Tapse vorsichtig die Treppen hinunter und kann kaum die schwere Eingangstür öffnen. „Seit wann ist diese Türe so schwer?“, denke ich und husche hinaus auf die Straße. Reges Treiben, als wäre nichts passiert. Für mich steht die Zeit still.
Alles ist anders. Nichts ist so wie es einmal war.
Mir fallen so viele Erinnerungen ein, sie kommen mir so real vor, im Gegensatz zur Gegenwart. Das Hier und Jetzt spürt sich so surreal an. Ich muss in eine Parallelwelt gefallen sein! Es ist so, als würde die Welt mit meiner Mutter parallel existieren, die ohne sie überlappt sich mit der anderen Welt. Eine Zeitreisende bin ich, ich hüpfe zwischen diesen zwei Welten hin und her. Ständig. Von einer Minute auf die andere, nur durch die Kraft der Gedanken. Wie kann ich gehen ohne die Person, die es mir beibrachte?
Langsam und vorsichtig spaziere ich die Straße hinunter, jeder Schritt kostet mich größte Konzentration und Überwindung. Mir kommt es so vor, als wäre der Untergrund nicht mehr stabil. Als würde er nachgeben, aber er trägt mich bis zur Bestattung. Ein Händedruck und ein höfliches und einfühlsames „Mein Beileid“ vom Chef des Bestattungsunternehmen. „Wie oft er das wohl am Tag sagt?“, frag ich mich. Für ihn seine tägliche Arbeit, für mich ein Weltensprung.
Ich fühle mich wie eine Raumfahrerin. Eingepackt in Watte und auf einer fremden Welt, die ich so nicht kenne. Fremd und doch vertraut zugleich. Ich übergebe ihm den Zettel, den wir im Krankenhaus bekommen haben. Mehr habe ich nicht. Das ist alles, was er braucht. Alles in wenigen Buchstaben codiert auf einem weißem Blatt Papier. Ein ganzes Schicksal auf einem Blatt Papier. Ich bin wieder baff. Jetzt ist es sie weit, ich organisiere das Begräbnis meiner Mutter. Gott sei Dank fühle ich mich sehr getragen von der täglichen Routine des Herrn S.
Ob ich schon einen Termin weiß? Ob ich schon angerufen habe, bei der Pfarre? Ich verneinte mit einem Schütteln meines Kopfes und wundere mich überhaupt, dass ich es bis hierher auf diesen Stuhl geschafft habe. Rechts von mir sind in einem offenen Schauraum Särge, überall Urnen und vor mir Kärtchen.
„Wollen sie einen Sarg aussuchen?“, vernehme ich ihn weit weg, obwohl er neben mir steht. „Wollen ist eine gute Frage“, denke ich, ich muss wohl einen aussuchen.
Ich stand auf und wir gingen zwei Schritte in den Schauraum. Ich wollte etwas Helles, Freundliches und naturbelassen. Da gab es nur zwei und ich nahm den günstigeren und schöneren. „Grüner Loden“, hieß das naturbelassene Holzmodel mit einem grünen Band herum. Zufrieden und etwas erleichtert flog ich in meiner Raumkapsel nach Hause. Besuchte im Gedanken meine Mama bei den Sternen.
© Sternenkind 2019-06-26