von Benjamin Kehl
Nichts schaut lächerlicher aus als ein Mensch, der bei trockenem Wetter mit einem Regenschirm umher rennt. Wie soll man diesen Paraplü denn bitte halten, wie einen Gehstock, ein Schwert oder eine Lanze? Oder sollte man sich den Arm ausrenken beim Versuch, den Schirm lässig auf der Schulter zu balancieren? Vermutlich ist es am einfachsten, jedem, der einem entgegenkommt, damit die Augen auszustechen, um beiden die Peinlichkeit zu ersparen.
Wo die Überlegung zu Hause noch konsequent und stilsicher schien, entpuppte sich der Verzicht beim Spaziergang schnell als schwerer Fehler. Als die ersten Tropfen niederprasselten, wollte ich die nahende Katastrophe noch nicht wahrhaben, redete mir selbst ein, das sei nur ein kleiner Schauer, so schnell da wie weg. Doch die Tropfen verschwanden nicht, im Gegenteil, sie wurden immer größer und immer mehr. Nach ein paar Minuten regnete es sintflutartig auf mich nieder. Ich wurde sauer. „Hätte ich mich nur nicht vor der Hausarbeit gedrückt. Kreativer Spaziergang am Arsch!“ Wütend stapfte ich durch den Regen und heulte auf. „Jetzt werden auch noch die neuen Schuhe nass, die sind noch nicht imprägniert!“
Ein lautes Donnergrollen unterbrach die Tirade. Aller Ärger schwang in Sorge um. Bekanntlich ist es ja wahrscheinlicher, vom Blitz getroffen zu werden, als im Lotto zu gewinnen. Angstschweiß sammelte sich auf meiner Stirn, als ich an die drei Richtigen dachte, die ich vor einem Monat geraten hatte. Die 11,80 € würden nicht mal für die Blumen auf dem Grab reichen. „Wenigstens kein Gewitter“, flehte ich und fühlte mich an Martin Luther erinnert. Der hatte damals laut Sage in einem Sturm geschworen, ins Kloster zu gehen, wenn er das Gewitter nur unbeschadet überstünde. Ich dachte an Augustinerbräu und zögerte eine Sekunde, besann mich dann jedoch, dass ich Latein bei erster Gelegenheit abgewählt hatte. Meine Augen durchkämmten die Umgebung nach einem Unterstand, doch weit und breit war nichts außer braunen Acker zu sehen. Ernüchtert kam ich zum Schluss, da es keinen Ausweg aus dem Gewitter gäbe. Meine Lieblingshose, die ich morgen anziehen wollte, war durchnässt. Das Wetter war schon seit Wochen regnerisch, kalt und trübe. Was sollte denn nun aus der Grillparty an meinem Geburtstag werden? Das hatte doch alles keinen Sinn mehr. Bereitwillig schloss ich die Augen und stellte mich darauf ein, jede Sekunde die geballte Macht des Zeus zu erfahren. Doch in dieser dunkelsten Minute kam mir eine Erkenntnis. Ich konnte nicht länger in ständiger Angst leben. Um wirklich frei zu sein, musste ich mich meinem Feind stellen, meinem Schicksal ins Auge blicken. Und eigentlich ist es ja auch ganz erfrischend, so richtig nass zu werden.
Voller Elan riss ich mir die Kapuze vom Kopf, streckte die Arme aus wie ein majestätischer Adler und öffnete die Augen. Nur um zu sehen, dass sich die dunklen Wolken schon verzogen hatten und der Regen langsam weniger wurde. Als ich mich verdutzt umblickte, bellte mich mein Hund an, der von meiner nervenraubenden Existenzkrise scheinbar wenig mitbekommen hatte. Stattdessen schmiss mir der Labrador grinsend ein Vogelküken vor die Füße. „Verdammt“, fiel es mir wieder ein, „Leinenpflicht“.
© Benjamin Kehl 2023-08-30