Paris (1) – Chloé

Günther Stark

von Günther Stark

Story

Als es Harry nicht länger in Deutschland hält, geht er freiwillig ins Exil nach Paris. Den 1. Mai fährt er über den Rhein.

Den Straßburger Münster, steingewordenes Monument falschen Bewustseins, sieht er nur von fern; er wackelt mit dem Kopf wie der alte getreue Eckart, wenn er einen jungen Fant erblickt, der nach dem Venusberg zieht.

Bei einem Pariser Schneider lässt er sich aus dem Oberrock, der sich noch aus seinen Berlinerisch eleganten Tagen herleitet, einen ehrsamen Schlafrock machen. Mit ernster Anerkennung betrachtet der den alten Mantel, dann sagt er:

„Es liegen einige gute Ideen in diesem Rock …“

Das Wort inspiriert den Besitzer. Könne er ihm vielleicht auch ein passendes Schuhgeschäft nennen, mit Schuhen, in denen einige gute Ideen steckten?

Staub empfiehlt ihm den illustren Laden einer gewissen Madame Maurel in einer Passage nahe dem Justizpalast. Sie sei eine Deutsche, die nach Frankreich geheiratet habe und seit dem frühzeitigen Tod ihres Mannes vor einem Jahr den Laden allein weiter führe. Bald macht er sich dahin auf.

Chloé Maurel ist längst eine typische Pariserin, sie Mitte vierzig, er dreiunddreißig. Ein deutscher Schriftsteller – stellt er sich vor –, komme er auf Empfehlung seines Schneiders, und erklärt ihr in humoristischer Weise seinen Wunsch nach Schuhen, in denen, wie Staub sage, einige gute Ideen stecken? Sie korrespondiert aufgeräumt seiner guten Laune und kramt in den Regalen, um seinem Wunsch so gut wie möglich zu entsprechen. Ihre freundliche Aufgeschlossenheit turnt ihn an. Sie sprechen einen mit deutschen Brocken gemischten Jargon, und sie fragt nicht ohne Anerkennung, woher er so gut Französisch kann. Er ist empfänglich für Komplimente – besonders für solche, die sich mehr der Schmeichelei als der Wahrheit verdanken. Da außer ihnen niemand im Laden ist, fühlt er sich stark wie der Löwe mit dem Hündchen und zieht kräftig vom Leder.

Sein Name sei Heinrich – c’est-à-dire, Henri. Hier in Frankreich sei ihm gleich nach der Ankunft in Paris sein Name ‚Heinrich‘ in ‚Henri‘ übersetzt worden, er habe sich darein schicken und sich hierzulande auch selber so nennen müssen, da das ‚Heinrich‘ dem französischen Ohr nicht zusage und überhaupt die Franzosen sich alle Dinge in der Welt recht bequem machen.

Aber auch ‚Henri Heine‘ könnten die Franzosen nicht recht aussprechen, und bei den meisten heiße er Monsieur Enri Enn.

Von vielen werde dies in ein Enrienne zusammengezogen, und heraus komme am Ende ein Monsieur Un rien – ein Herr Nichts.

Un rien besagt französisch nämlich nichts anderes als ein Nichts; sodass man ihn hierzulande praktisch zu einem Nichts reduziert und ihn buchstäblich annihiliert habe und er dadurch geradeso zu einem Niemand geworden sei wie dazumal Odysseus in der Höhle des Polyphem. Un rien!

Madame Maurel ist etwas verwirrt von so viel Philologie, schaut ihn ungläubig an und weiß nicht, ob sie dieser nichtswürdigen dénomination ihrer Landsleute wegen lachen oder weinen soll.

© Günther Stark 2021-02-27

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