Part 8 Bötzowstrasse 4

Christian Wik

von Christian Wik

Story
Berlin 2024 – 2025

Der alte Mann griff in eine der Seitentaschen seiner Jacke und holte eine Schachtel Zigaretten hervor, angelte sich eine heraus und zündete diese mit einem tiefen Zug an. Er blies den Rauch in die Luft und wendete sich Paul zu. „Na, neuer Nachbar, was?“, fragte er mit einem unterdrückten Berliner Dialekt. Paul blickte ihn an, stellte die Bierflasche neben sich auf die Bank. „Ja genau, Vorderhaus ganz oben.“ Der Mann blickte hoch zur Wohnung. „Frau Messner hatte lange in der Wohnung gewohnt. Ich wünsche dir jedenfalls gutes Ankommen in der Gegend.“, sagte der Mann mit einem ernstgemeinten und herzlichen Ton. „Ich heiße Juri, vielleicht erkennst du mich wieder?“, fragte er. Paul stand auf. Er kam sich nun unhöflich vor, dass er noch immer saß. Schnell versuchte er beim Aufstehen die letzten Begebenheiten mit dem Mann vor ihm abzugleichen, aber er fand keinen Treffer. „Ich heiße Paul, leider kann ich Sie gerade nicht zuordnen.“ Juri lächelte, dabei entwich ihm Qualm aus dem Mundwinkel. „Das macht gar nichts. Ich habe dich immer wieder mal bei den politischen Gesprächen gesehen. Johanna ist meine Tochter, ab und zu setze ich mich dazu. Oder sagen wir eher in die Nähe. Die Diskussionen sind mir zu wenig konstruktiv, viel Dampf von allen Seiten, wenn du weißt, was ich meine.“ Paul konnte sich nicht erinnern, dass ihm Juri einmal aufgefallen war. „Ich denke es geht genau darum, also Dampfschwaden aufeinander zu legen und gemeinsam schauen, was dabei herauskommt.“, überlegte Paul. Juri warf die Zigarette in ein altes Marmeladenglas auf dem Fenstersims neben ihm, steckte die Hände in die Taschen. „Du kannst noch so viel Dampf auf- und übereinanderlegen, am Ende bleibt es Dampf. Sicher ist es wichtig, einmal Theorien anzuschauen und miteinander abzustimmen. Aber dann muss man handeln, sich wehren, wenn die Zeit dafür gekommen ist.“. Er zeigte mit dem Finger auf das Schild Aufbruch 89. Paul folgte mit den Augen dem Finger bis zum Schriftzug. „Sie drucken Bücher, also politische Bücher?“ Juri ging um Paul herum, setzte sich auf die Bank und wies mit einer Handgeste an, es ihm gleichzumachen. Als beide saßen, holte Juri wieder die Schachtel Zigaretten heraus. „Dann würde ich wohl eine Druckerei führen, und keinen Verlag, was?“, grinste er Paul entgegen. „Ich verlege Bücher, das ist ein sicher erkennbarer Unterschied. Die Druckerei gehört nicht zu mir, ich arbeite mit denen zusammen.“ Paul nickte, um sein Verständnis auszudrücken. Juri schaute wieder nach oben zum dunkel werdenden Himmel, vom Hof aus ein von Häusern umrahmtes Quadrat. „Im Grunde ist es mehr, was wir machen. Mein Verlagspartner Herbert und ich wollen aufzeigen, was in der DDR-Dikatur für Verbrechen begangen wurden und welche Machenschaften es bei der Abwicklung der staatseigenen Betriebe, Ländereien und Wertgegenständen gab, also nach dem Zusammenbruch.“ Paul trank inzwischen den letzten Schluck Bier. „Dann hättest du bei den Gesprächsrunden vermutlich einiges beizutragen?“. Paul fühlte sich immer noch etwas komisch, den älteren Mann neben ihm zu Duzen. Juri hatte die Zigarette nicht anzündet, sondern hinter sein rechtes Ohr geklemmt. „Ja, das habe ich am Anfang auch. Aber die jungen Leute wissen alles besser, was man hätte hier und dort doch einfach machen können, um gar nicht erst diese Lage zu geraten. Schwachköpfe.“ Juri verschränkte die Arme. „Handeln muss man natürlich, entschlossen, kurz, aber leise.“

© Christian Wik 2024-10-07

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Hoffnungsvoll