von Alexander Hörl
Mein Gast trägt eine Maske. Als er sie abnimmt, erblicke ich glatte, ebenmäßige Züge und zwei müde, von Weisheit und Lebensjahren ermattete Augen. Vor mir sitzt Zarathustra.
Ich hebe meinen fiebrigen Blick. In meinen Gliedern tobt ungekannte, krankhafte Hitze. Die Vernunft gebietet mir, meine Vorstellung niederzukämpfen und meinem überreizten Geist ein wenig Ruhe zu gönnen, aber ich bin zu sehr in meiner Rolle verhaftet. Der Pudel sitzt neben mir und flüstert mir blasphemische Worte ins Ohr. Ich fühle mich dehydriert und ausgezehrt, aber meine zitternden Glieder sehnen sich bereits nach den Figuren.
»Worum spielen wir, Herausforderer?«, frage ich, ohne meine Gier nach der Hitze des Spiels zu verbergen.
»Um Euer Gewissen«, ertönt die leise Antwort. Das müde Augenpaar streift mich nur kurz. Zarathustra seufzt, so als ob er die Sinnlosigkeit seines Vorhabens bereits erkennt. Ich weiß nicht, ob er Mitleid oder Verachtung bekunden möchte.
Zarathustra spielt schlecht. Seine Züge bringen mich ein ums andere Mal in Rage. Ihm scheint das Ergebnis völlig gleichgültig zu sein. Der große Gelehrte schiebt die Figuren achtlos über das Brett, ohne meine Aufstellung eines Blickes zu würdigen.
Der Pudel bellt triumphierend. Innerhalb weniger Minuten habe ich ihn besiegt.
»Warum spielt Ihr so erbärmlich?«, frage ich wütend. »Ihr könnt doch unmöglich so schlecht sein!«
Ein sanftes Lächeln teilt Zarathustras Gesicht. Er faltet die Hände und neigt den Kopf.
»Ich habe Euch auf die Probe gestellt, mein Herrscher. Alle Menschen müssen wählen zwischen dem Prinzip des Bösen und des Guten. Ich wollte auskundschaften, ob für Euch noch Hoffnung besteht. Hättet Ihr dem Bösen abgeschworen, dann hättet Ihr mich nie zu diesem Spiel gezwungen.«
»Ich zwinge Euch doch nicht …«
»Nicht? Ihr zwingt dieses Bild meiner selbst in Eure Vorstellung, um einen dekadenten Schicksalskampf zu imaginieren … während Ihr selbst in Einsamkeit versinkt …«
Ich öffne entsetzt die Augen. Langsam wandert mein Blick über den Schreibtisch, über meine zitternden Hände. Plötzlich befällt mich unerträglicher Schrecken. Wenn ich die Augen öffne, wenn ich meine Vorstellung verlasse … bin ich wieder in der Realität und mir selbst ausgeliefert.
Ich atme tief durch und versinke wieder in meiner Fantasie, ohne auf das glühende Fieber zu achten, das in Wellen von meiner Stirn auszugehen scheint.
© Alexander Hörl 2022-06-04