Parzival in Quarantäne XII: Blanchefleur

Alexander Hörl

von Alexander Hörl

Story

Ich sehe keinen Ausweg. Die unerträgliche Stille des Zimmers verschlingt mich langsam. Mit mühsamen Schritten schleppe ich mich vor den Spiegel und betrachte mein eigenes Gesicht. Mein Blick wandert über die zerzausten Haare, die bleichen, eingefallenen Wangen und die erschöpften Augen. Sie erscheinen mir im schwachen Dämmerlicht wie bodenlose Abgründe, ohne Sicherheit, ohne Form. Alles verliert sich in ihnen, ohne den geheimnisvollen, unmenschlichen Zweck zu kennen, der sich in ihnen verbirgt.

Ich sehne einen Ausweg herbei und werfe einen hoffnungsvollen Blick auf den kleinen Pudel auf dem Fensterbrett. Meine Vorstellungskraft lässt mich im Stich.

Ich bin vollständig mit mir allein. Vielleicht war ich das schon immer. Vielleicht sind all meine Bemühungen, all mein Ehrgeiz nur Symptome dieser furchtbaren Einsamkeit.

Als ich meinen Blick gerade wieder auf meine verschatteten Augen richte, dringt ein winziger Lichtstrahl durch die zugezogenen Vorhänge. Mein Handy vibriert.

Ich reagiere zunächst nicht. Zu unwirklich erscheint mir dieses wirkliche Geräusch, verglichen mit den Schachspielen in meiner Vorstellung. Dann erst blinzle ich in das Licht und erhebe mich schwerfällig, greife nach dem Gerät.

»Wie geht es dir?«, fragt Fleur besorgt. Ihre Stimme lässt mein Herz erbeben.

»Gut«, erwidere ich leise. Sie hört sofort, dass ich lüge.

Wir reden nur kurz. Sie muss zur nächsten Vorlesung. Doch als sie sich verabschiedet und auflegt, haben sich ihre Worte bereits tief in mein Gedächtnis gebrannt. Meine Gedanken überschlagen sich. Ich versuche, ihnen einen Sinn abzugewinnen.

»Lüg mich bitte nicht an, wenn es dir schlechtgeht«, sagt sie.

Habe ich gelogen? »Gut.« Ist das eine Lüge? Wie geht es mir jetzt gerade überhaupt? Ich blicke in den Spiegel, mustere mein erschöpftes Gesicht. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal jemandem die Wahrheit über meine Gedanken erzählt habe. Mit einem Mal begreife ich, dass ich immer und überall alle Menschen belüge.

»Gut«, sage ich stets lachend. Ehrgeiz erlaubt keine Schwäche, oder?

© Alexander Hörl 2022-06-07

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