von Martin Gloger
Paul wollte anfangs nicht in diese Stadt fahren. Dort, 1000 km von zu Hause entfernt, fand ein wissenschaftlicher Kongress statt. Zu dieser Reise war er nicht 100%ig motiviert, es waren vierzehn Stunden Zugfahrt, die es zu überbrücken galt. Bis München kann man im ICE lesen und Kaffee trinken, danach wird es langweilig, insbesondere die Aussicht, nachts am Hbf Salzburg zwei Stunden warten zu müssen, erschien ihm mehr als ungemütlich. Paul hätte sicher zu Hause das eine oder das andere zu erledigen gehabt, was er nicht aufschieben wollte. Das Bild veränderte sich, als Paul erfuhr, dass seine Schule in der fraglichen Zeit eine Exkursionswoche hatte, bei der er nicht anwesend sein musste, und so hatte er spontan für diese Woche freibekommen. Paul entschied sich also doch, diese Reise anzutreten. Ein gemischtes Gefühl blieb. Es zog Paul wenig in diese Gegend. In der österreichischen Universitätsstadt traf er Clara. Sie saßen zusammen in der Cafeteria und die Zeit verging wie im Flug. Für Claras Ohren klang es schon wild, wenn jemand Chemie mit „sch“ aussprach. Würden die Leute in Norddeutschland etwa auch mit „Schlor“ putzen oder an „Schlamydien“ erkranken? Die hochdeutsche Sprache klang für Clara bislang arrogant, aber Pauls Deutsch gefiel ihr. Paul und Clara lebten bislang in zwei verschiedenen Welten. Clara musste einräumen, dass sie erst nachschlagen musste, wo Hannover genau liegt. Wie das Leben in der verrückten Stadt im Norden pulsiert, macht sie neugierig, ebenso wie die Unterschiede in der gemeinsamen Sprache zu erkunden und vieles mehr. Es machte Clara neugierig, wie es in Norddeutschland sein mag. Clara hatte sich nie für Deutschland interessiert, nun gab es für sie viel zu entdecken.
Sie fährt schneller nach Zagreb oder Rom und nicht nach Düsseldorf, und Paul reist für ein Wochenende eher nach Kopenhagen und nicht nach Wien. Vielleicht schreibt er mal ein Buch darüber, wie es einem Norddeutschen in Österreich ergeht. Genug zu erzählen hätte Paul. Viele von Claras Erzählungen bleiben bei Paul in Erinnerung, z. B. von dem schönen Urlaubsparadies, das in Wirklichkeit eine asbestverseuchte Hölle war, und von Claras Umhängetasche, auf der im Jahr 2000 anlässlich einer Regierungsbeteiligung der FPÖ „Ich habe diese Regierung nicht gewählt“ stand, und vieles mehr. Paul hätte es geliebt, ihr länger zuzuhören.Am Ende der Woche würde Paul zurück nach Hannover fahren. Er fragte Clara, ob sie sich vor seiner Abreise noch einmal treffen könnten. Clara zeigte ihm Samstagnachmittag die Stadt. Auf dem Rückweg sah er das Vorgefundene mit anderen Augen. Es ist jetzt Claras Stadt. Paul weiß jetzt, wo Clara zur Schule gegangen ist, in welchen Cafés sie ihre Freistunden verbracht hat, und ihre Geschichte wird zu einer gemeinsamen Geschichte. Es ist seine andere Welt, die er jetzt hier zurücklässt.
Paul sagte Clara zum Abschied nicht, dass er traurig gewesen sei. Später antwortete Clara, dass sie diesen Abschied auch traurig fand. Es ist aufgefallen, dass Paul sich gewünscht hätte, länger bleiben zu können. Die beiden hätten sicher gute Zeiten miteinander verbracht.
© Martin Gloger 2024-10-15