Perfectly Curated

„Lilly, kommst du endlich? Es ist Zeit fürs Essen!“, rief eine Stimme von unten. Zum wiederholten Mal. Ich seufzte und schaute von dem Werk vor mir auf.

„Ich bin gleich da!“, antwortete ich, ebenfalls zum wiederholten Mal. „Ich muss nur noch dieses Bild machen!“ Und was für ein Bild das geben würde: Ich hatte das Gästezimmer meiner Tante hergerichtet, sodass das mit fluffigen Kissen bedeckte Bett vor dem bodenlangen Fenster stand und den Blick auf den weitläufigen, professionell gestalteten Garten freigab. Die Szene war perfekt für meinen Insta-Feed. Nach meinem Fotoshooting würde ich die Möbel wieder zurückstellen, das war die Bedingung meiner Tante, dass ich Bilder von ihrem Haus im Netz hochladen durfte. Da sie in ihrem riesigen Haus schier endlos viele Kulissen hatte, nahm ich diese Arbeit jedoch gerne in Kauf. Meine Followers liebten die Beiträge von hier.

Nach einem letzten Blick auf die Szene vor mir startete ich den Selbstauslöser an meinem Smartphone und legte mich auf die traumhaft weiche Matratze. Den Blick nach draußen auf das Panorama gerichtet, probierte ich einige Posen aus, in denen ich vorteilhaft aussah: Bauch eingezogen, den Rücken im Hohlkreuz oder die Knie leicht nach innen gedreht, sodass meine Beine deutlich dünner wirkten. Ich wusste, dass diese Bilder gut ankamen. Und wenn meine Followers glücklich waren, war ich es schließlich auch.

In der Zwischenzeit hörte ich erneut die Stimme meiner Mutter, schließlich die meiner Tante, doch da ich wusste, dass sie mich bloß an das laufende Familienessen im Esszimmer erinnern wollten, unterbrach ich mein Shooting nicht. Ich war gerade so im Flow – und als ich die knapp zweihundert Bilder schließlich begutachtete, waren da wirklich ein paar Hammermäßige dabei. Ich lächelte zufrieden. Meine Familie sah ich oft genug, doch diese Bilder waren einmalig. Damit würde ich bestimmt die fünfzigtausend Followers knacken. Getaway im Ferienhaus, schrieb ich als Caption, zusammen mit meinen typischen Hashtags. Ich hatte letztens einen bösen Kommentar bekommen, dass das Haus niemals mein Ferienhaus sei. Doch es stimmte: Seit ich ein Kind war, verbrachten meine Eltern und ich die Ferien bei meiner Tante. Das hier war mein Ferienhaus, auch wenn es mir nicht gehörte. Ich hatte die Person mit dem Kommentar sofort blockiert.

Ich schaute zu, wie sich nach und nach die Like- und Kommentarzahlen erhöhten, etwas enttäuscht. Obwohl die Kommentare positiv waren – einer schrieb, wie neidisch er auf mein Anwesen war –, stiegen die Zahlen nicht so schnell wie erhofft. Das wollte ich nicht auf mir sitzenlassen. Ein weiterer Post vom Familienessen würde vielleicht helfen. Also ging ich nach unten ins Esszimmer, während ich mich bereits auf die Vorwürfe vorbereitete, die immer auf mich warteten, wenn ich wieder das Essen verpasste. Egal. Meine Followers liebten Family-Posts.

Wie ironisch, dachte ich, als ich meine Familie am Tisch zusammensitzen sah. Sie sagten immer, Social Media würde ihnen so viel von mir wegnehmen, und doch waren meine Posts über sie am erfolgreichsten. Was sollte ich ihnen mehr geben als das?!