Pfütze

Richard Oppong

von Richard Oppong

Story

Ich lebe auf der Straße. Sehe tausend Menschen an mir vorbeigehen. Tag für Tag. Nacht für Nacht.

Männer, Frauen. Töchter, Söhne. Alle ziehen sie an mir vorbei. Nur ein kurzer Moment, ein Augenblick, den wir uns teilen. Ein Augenblick, in dem vieles passiert. Oder auch gar nichts. Der eine entgegnet meinem Hallo und grüßt verlegen zurück oder spendet etwas, der andere würdigt mich nicht mal eines Blickes und folgt unberührt seinem Kurs.

Ob es mich traurig macht? Kommt darauf an. Ja, ich finde es traurig, dass man Menschen ausblendet. Es ist eine Abwertung der Existenz, eine Verletzung der Würde. Aber traurig macht es mich nicht, zumindest nicht mehr. So hart wie es klingt, mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Man gewöhnt sich daran, nicht länger als Mensch gesehen zu werden. Die Straße ist zwar grausam, aber auch lehrreich. Ich habe erst auf der Straße gelernt, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Ich habe es erst verstanden, als ich diesen Status verloren hatte. Ja, Mensch zu sein ist auch ein Status. Ganz gleich, welcher Schicht man in der Gesellschaft angehört, man hat immer noch so etwas wie einen Wert. Man ist nicht egal, zumindest nicht komplett. Es würde einen Unterschied machen, wenn man komplett verschwinden würde. Doch bei mir ist es anders. Keiner würde mir nachtrauern, wenn ich eines Tages nicht mehr sein sollte. Ich denke sogar, dass der Großteil der Leute sich sogar freuen würde, wenn ich weg bin. Ich merke es an ihren Blicken. Nicht nur verurteilend, sondern auch verachtend. Manchmal kriege ich Aussagen zu hören wie:

„In unserem Land muss niemand auf der
Straße leben.“

„Du hast doch selber Schuld!“

Die Leute erlauben sich, über mich zu urteilen, obwohl sie mich und meine Geschichte gar nicht kennen. Ich lebe jetzt schon so lange auf der Straße, dass es sich so anfühlt, als wäre ich schon immer hier gewesen. Ja, an meine Vergangenheit kann ich mich erinnern, aber es fühlt sich alles so fremd an, als wären es nicht meine Erinnerungen. Ich kann auch gar nicht mehr sagen, ab wann es für mich bergab ging.

Ich stelle mir oft vor, wie es wäre, ein anderes, ein besseres Leben zu führen. Ich wache nach einer ruhigen Nacht in einem warmen Bett auf und gehe ins Bad. Ich putze mir die Zähne und dusche dann. Danach begebe ich mich runter zur Küche. Dort mache ich mir Frühstück. Auf dem Tisch habe ich Brot, Butter, Käseaufschnitt, Marmelade, Kakao, ein Ei und eine Zeitung liegen. Nach dem Essen greife ich mir meine Schuhe, meinen Mantel und meinen Koffer, weil ich zur Arbeit muss. Ich renne wieder rein, um Schal und Handschuhe zu holen, da es draußen ziemlich kalt ist. Auf dem Weg zur U-Bahn begegne ich einem Obdachlosen, der mich mit leeren Augen anschaut. An diesem fiktiven Punkt angekommen, erwarte ich immer wieder von mir selbst, dass ich dem Obdachlosen etwas gebe. Egal, ob es Geld, etwas zu essen, etwas zu trinken oder auch einfach nur nette Worte sind.

Doch jedes Mal drehe ich mich weg und gehe einfach weiter.

© Richard Oppong 2023-02-01

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Dunkel, Emotional, Reflektierend, Traurig
Hashtags