von Michael Stary
Eng wird es mir vor Kurzem im Herz, als ich eine Szene meiner Kindheit näher beleuchte. Über viele Jahre kämpfe ich mit immer wiederkehrenden, stechend lähmenden Schmerzen im Beckenboden – mit der Betonung auf „kämpfen“. Es tat so weh, ich unternahm erdenklich alles, was dort Hilfe versprach. Schulmedizinisch, komplementär und ein paar Selbsthilfetechniken, die mir Linderung verschafften. Keine näheren Details, die Phantasie darf die Fäden spinnen. Doch weg gings nie. Im Stress erst recht nicht. Es kam immer wieder. Gemein und langsam anbahnend durch ein Druckgefühl, baute sich in stechende Impulse auf und verspannte meinen Genitalbereich.
Viele Traumen sind bekannt und zugeordnet, viel Arbeit steckt dahinter. Viel erneuter Vertrauensmissbrauch der letzten Jahre kommt hoch. In Beziehung, wo sonst. Viel Wut ist im Gepäck, ungelebt, unterdrückt, wegmeditiert. Nicht, weil ich nicht bereit bin den Schmerz zu fühlen, nein, ich kam einfach nicht hin bis dato. Die liebe Wut. „Du bist so ausgeglichen, ruhst in dir.“ höre ich immer wieder. Doch die härtesten Stunden alleine hinter verschlossenen Türen sind unsichtbar und ohne Zeugen. Die selbstliebende Zuneigung trägt Früchte nach Außen.
Innen brodelt es nach wie vor an der Wurzel des Geschehens.
Da unten ist was los.
Das Bild ist glasklar. Es ist meinem Gefühl nach meine erste, bewusste Erinnerung. Mit zwei oder drei zarten Lebensjahren. Helles, weißes Licht strahlt aus der Arztlampe auf meinen entblößten, kleinen Körper. Meine Mutter ist irgendwo hinter mir. Der Kinderdoktor war mir nie sehr sympathisch, doch das zählte in dem Moment nicht. Er steht rechts von mir, ich liege am Rücken auf einer harten Pritsche, die mit Wegwerfpapier bezogen ist. Eine Arzthelferin steht auf meiner Linken irgendwo in Reichweite mit einer grauen Nierenschüssel. Aller Blick geht in meine Körpermitte. Mir ist kalt. Niemand redet mit mir.
Und dann plötzlich ein grober Griff, ein Schmerz, so stark, dass es mir fast das Bewusstsein raubt. Alles in mir zieht sich zusammen und ich winde mich und schreie los. Wie es weiterging ist mir nicht mehr bekannt.
Mein lieber, gleichaltriger Nachbarsfreund mir ghanesischen Wurzeln hatte damals (wie heute) auch keine Vorhaut mehr. Dem wurde sie in einem Ritual weggeschnippelt. Wir vergleichen unsere bubenhaften Gebilde und stellten fest, dass, außer der Farbe, erstaunliche Ähnlichkeit besteht in Form und Struktur. Beide sind vorne nackt. Jeder erfuhr dies auf seine Art und Weise schmerzhaft.
Viele Jahre später, und das ist mir erst jetzt bewusst, wird jede potentielle Berührung von einem mir fremden Menschen (am liebsten Frauen) in der Gegend als Gefahr empfunden. Meine Nebennieren fahren hoch und schütten Adrenalin aus. Nicht immer, aber manchmal muss ich auffallend oft auf die Toilette. Viele Jahre des immer wieder nötigen, manchmal quälenden Vertrauensaufbaus sind Geschichte.
Ja, ich kann die Wurzel und den Schmerz nun lieben.
© Michael Stary 2020-05-30