Phönix aus der Asche

Moritz Sacid Polixa

von Moritz Sacid Polixa

Story

Wenn es nur morgens wäre! Wenn ich mich nur einmal nach dem Aufstehen im Badspiegel ansehen müsste. Einmal am Tag den unaufhaltsamen Verfall besichtigen und in den Tag starten, der der letzte sein könnte, an dem ich (im besten Fall) noch aussehe wie Ende vierzig.

Wie machen das Leute, die mit fünfzig schon aussehen wie siebzig, die von ihren erwachsenen Enkeln erzählen, als wäre es normal, in den Augen der Welt schon halbtot zu sein.

Wenn ich ehrlich bin, beneide ich sie noch mehr als die Zwanzigjährigen, deren Körper kaum auf Schwerkraft reagieren. Denn auch sie werden alt und damit klarkommen müssen, dass ihre Körper zerfallen werden wie Milchschaum.

Meiner ist schon lange dabei und ich werde den ganzen Tag lang daran erinnert; in Spiegeln auf Toiletten und in Umkleiden, in Schaufenstern und Autoscheiben, in Pfützen, in Löffeln und Messern. Keine halbe Stunde vergeht, ohne dass mich ein kalter Schauer schüttelt und ich mich fragen muss, ob die Tiefe der Furchen in meinem Gesicht schon wieder einen Zentimeter erreicht haben und ich ein Schüsschen brauche oder vielleicht doch schon einen Sarg.

Einmal noch aussehen wie Mitte vierzig. Einmal noch ein Leben vor mir haben. Nicht schon mit einem Bein im Grab stehen. Zumindest in den Augen der anderen. Gefragt werden, ob ich auf eine Party will, anstatt zu einem Bridgeturnier. Einmal noch zum Doktor für ein letztes Spritzchen um die Augen. Das wird mir vier Monate mit vierzig geben. Zeit genug, mich meinem Schicksal hinzugeben, mein Alter zu akzeptieren und aus dem Leben zu treten. Die Leitung ist frei, der nächste Termin am frühen Nachmittag. Vorfreude auf das Piksen im Gesicht und auf eine wohltuende Entspannung bis in die Zehenspitzen quillt in mir hoch wie ein Geysir und befreit mich von der Last des Alters.

Im Aufzug sehe ich mein Spiegelbild. Da steht ein gut gelaunter erwachsener Mann. Das schiefe Lächeln steht ihm gut und die zusammengekniffenen, faltigen Augen wirken sympathisch. Eigentlich. Denn die Spuren bisheriger Schönheitseingriffe geben ihm eine verzweifelte Aura. Das möchte ich nicht sein. Ich drücke auf die Null. Die brennende Scham, dass meine Laune vom nächsten Verjüngungseingriff abhängt, gibt mir Brechreiz. Mein Spiegelbild nimmt die Hände vors Gesicht und es wird Dunkel. Wie konnte es so weit kommen? Ein Wall bricht, irreparabel, aber befreiend. Ich heule und schluchze so tief und verbittert, dass es mich schüttelt. Im Spiegel steht ein gebrochener Mann mit roten Augen.

„Warum weinst du?“, fragt die Tochter der Nachbarin, die in der Tür steht.

„Weil ich Angst vor dem Tod habe.“

„Ist der hinter dir her?“

„Ja.“

„Du brauchst eine Maske, damit er dich nicht erkennt.“

„Danke!“ Lachend und heulend gehe ich an ihr vorbei. Wenn ich mich nicht spritzen lasse, wird er mich nicht erkennen!Wie der Phönix aus der Asche trete ich in die Sonne und kneife furchtlos die Augen zusammen.

© Moritz Sacid Polixa 2022-08-27

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