von Gernot Candolini
Wir sind die ganze Nacht gefahren und um 5 Uhr früh in Paris angekommen. Der Cafe au lait tut gut, es regnet leicht, und wir teilen die Brasserie mit Menschen, die vor dem zu Bett Gehen noch ein Bier trinken. Unser Ziel ist die Kathedrale Notre Dame an der Seine, die wir nach ein paar Metrostationen erreichen. Wir sind zu fünft, zwei Freunde, meine Frau, meine Tochter und ich. Wir schultern unsere Rucksäcke und wandern die Rue Saint Jaques nach Süden. Den ganzen Vormittag bewegen wir uns durch die Straßen von Paris. An der Sorbonne vorbei, kommen wir in den Lärm enger Gassen, und stoßen auf einmal auf eine breite Straße mit einer Allee in der Mitte. Diese wandern wir zu ihrem Ende an einem Park. Dann über eine Autobahnbrücke hinein in einen verträumten Vorort. Am Dorfplatz von Malakoff machen wir Mittagspause.
Irgendwann sind wir dann auf einmal aus der Stadt heraußen. Wald- und Feldwege wechseln sich ab, immer wieder ist auch ein kleines Straßenstück dazwischen. Über Rambouillet, wo wir alle Ringelspiel fahren, den Schlosspark besichtigen und übernachten, kommen wir nach Maintenon. Der dritte Tag ist heiß und die Wasserpumpe am Straßenrand kommt um die Mittagszeit gerade richtig. An einer Geländekante sehen wir auf einmal schwach sich am Horizont abhebend die Türme der Kathedrale von Chartres. Dort wollen wir hin, das ist das Ziel unserer Pilgerfahrt. Aber es dauert doch noch Stunden bis wir endlich den Stadtrand von Chartres erreicht haben. Über eine lange Treppe steigen wir auf den Hügel und dann steht sie vor uns, eines der schönsten Bauwerke der Welt, die Kathedrale von Chartres.
Der Bau ist großartig und die Figuren an den Säulen sind wunderschön. Wir staunen was aus dem Stein herausgebildet werden kann. Am ersten Tag bleiben wir noch vor den Türen und treten noch nicht ein. Wir sind müde und hungrig und wollen frisch und geduscht über diese Schwellen gehen.
Am nächsten Morgen werden wir begrüßt von Sara, Abraham und Hagar, die am Eingang stehen, David Salomon und die lächelnde Königin von Saba, Propheten und Königinnen. Hinter dem großen Holztor umfängt uns eine leichte Dunkelheit, bis die Augen sich gewöhnt haben und das Innere der Kathedrale langsam sichtbar wird. Durch tausend blaue, rote, gelbe und grüne Fensterscheiben dringend, scheint sich das Licht in einen goldgelben Glanz zu verwandeln. Die Birnen aus den elektrischen Lampen wirken wie verlegene Fremdkörper.
Da liegt das Labyrinth vor uns. Wir gehen die Bahnen des Labyrinths zur Mitte, erfüllt von Dankbarkeit über unser Leben.
Das Fenster der blauen Madonna, mit ihrem minimal angedeuteten zarten Lächeln, verführt immer wieder neu mitzulächeln. Da entdecke ich die Hände der Maria. Mit einer Hand hält sie Jesus fest, mit der anderen schiebt sie ihn von sich.
„Das ist Eltern sein, die Kinder zu halten und sie doch der Welt zu geben.“, sage ich zu meiner Frau. Lange noch wirkt diese Reise in uns nach und in Tagen wie diesen erzählen wir davon.
© Gernot Candolini 2020-05-06