von Emma Breuninger
Ich bin verliebt. Zum ersten Mal in meinem Leben. Er ist toll, dieser große, schlanke Mann mit den langen, tief schwarzen Haaren und dem Band um die Stirn. Er heißt Winnetou und ist in allen Kinos zu sehen. Der Film ist erst ab zwölf Jahren freigegeben, ich bin aber erst elf Jahre alt. Mist, zu dumm. Gott sei Dank ist mein Bruder Rudi im Besitz einiger Karl May-Bücher. So beginne ich also zu lesen wie verrückt und habe „Winnetou I“ bald fertig gelesen. Es folgen Winnetou II und Winnetou III und einige andere Bücher von Karl May.
Auf den Buchdeckeln sieht Winnetou gar nicht so schön aus, aber dieser Winnetou im Film, der ist so wunderbar. Ich schneide die Zeitungsannonce des Kinos aus, stelle das Foto dieses sagenhaften Mannes neben den Wecker. Ich schlafe mit Winnetou ein, ich wache mit Winnetou auf. Eines Tages verstehe ich, dieser Winnetou sieht nur so gut aus, weil der Schauspieler, der ihn im Film spielt, so gut aussieht. Das ist ein Franzose, der heißt Pierre Brice. Noch kann ich kein Französisch und spreche den Namen so aus, wie man ihn schreibt „Pirre Britze“. Meine Liebe verlagert sich nun von Winnetou auf „Pirre Britze“. Ihm schreibe ich Briefe, hoffe auf ein Autogramm, auf ein paar liebe persönliche Zeilen von ihm. Das Autogramm liegt eines Tages im Briefkasten, die persönlichen Zeilen kommen nie. Ich will diesen Mann heiraten. Bin inzwischen 12 Jahre alt, er 36 Jahre. Den großen Altersunterschied finde ich dann doch etwas bedenklich.
Endlich darf ich die Winnetou-Filme im Kino anschauen. Dass Winnetou in Teil III sterben wird, erfordert gute Vorbereitung in Form einer Anzahl Taschentücher, die meine Freundin Wiwi und ich mitnehmen, um die Tränen aufzufangen, die wir vergießen müssen.
Übrigens: Pierre Brice heiratet Jahre später tatsächlich eine Deutsche, die im gleichen Jahr wie ich geboren ist. Diese Frau ist eine von drei Drillingsschwestern :-)
Nun, Liebe ist vergänglich. Als eines Tages ein entfernter Cousin aus München auf Kurzbesuch in Ulm auftaucht und ich mit ihm die 768 Stufen bis zur Spitze des Münsterturmes hinaufsteige, sind Winnetou und Pierre Brice – inzwischen habe ich gelernt, wie man den Namen richtig ausspricht – plötzlich total uninteressant, der Cousin ist viel interessanter und er ist da, fassbar, real. Er bleibt lange mein großer Schwarm.
Jahrzehnte später habe ich die Möglichkeit Pierre Brice in einer Komödie im Theater zu sehen. Um mich herum sitzen hauptsächlich Damen in meinem Alter. Man kommt ins Gespräch und wir stellen fest, wir alle haben damals in den 60-er Jahren für Pirre Britze geschwärmt. Aus purer Nostalgie wollen wir ihn nun live erleben. Nach der Vorstellung geht die ganze Truppe zum Bühnenausgang. Autogramme wollen wir uns holen. ER erscheint und ich sage frech: „Vous etiez mon premier amour – Sie waren meine erste Liebe“. Da muss Pirre Britze lachen.
© Emma Breuninger 2020-07-16