Polarität: Leben – Tod

Julia Jellinek

von Julia Jellinek

Story

Die offensichtlichste Polarität ist wohl die zwischen dem Leben und Tod und doch wird diese von so vielen Menschen falsch verstanden. Es geht eben nicht darum, solange das Leben andauert, den Tod zu vermeiden. Es geht darum, beides anzunehmen, da diese eben nicht ohneeinander existieren können. Vielleicht fragst du dich jetzt, wie du den Tod annehmen sollst, da dieser nun mal das Ende deines Lebens darstellt. Doch verbringen die meisten Menschen ihr Leben damit, den Tod zu vermeiden, weil sie eine riesige Angst davor haben. Die Todesangst ist sogar die größte Angst des Menschen und deswegen ist es auch so herausfordernd, sich dieser zu stellen. Die Menschen verdrängen jedoch nicht nur die Tatsache, dass sie eines Tages sterben werden, sie lassen ihr Leben von dieser Angst bestimmen und einnehmen. Stell dir mal kurz vor, wie es wohl wäre, wenn wir keine Angst vor dem Tod hätten. Meinst du nicht, wir würden wahrhaftiger leben, das Leben und jeden Moment genießen und wertschätzen? Die Ausrichtung, mit der wir leben würden, wäre nicht mehr Angst und daraus folgende Kompensation, sondern unsere Werte und Wünsche. Diese Polarität zu verstehen und zu leben, meint, den Tod vollkommen in sein Leben einzuladen. Das heißt, im Leben zu sterben. Habe die Bereitschaft, zu sterben, wenn es dazu kommen soll, wenn dein Leben zu Ende geht, wann immer das sein wird, ob morgen oder am Ende eines langen Lebens. Habe trotzdem den Willen zu leben, die Zeit, die du hast, bewusst zu nutzen und wertzuschätzen. Geh durch die Todesangst und entdecke, was nicht stirbt.

An dieser Stelle möchte ich dir von meinem Opa erzählen, da mich sein Umgang mit dem Tod und letzten Endes sein Sterben schwer erschüttert hat. Er war jahrelanger Raucher und hat sowieso einen sehr ungesunden Lebensstil gehabt, hat sich kaum bewegt, die meiste Zeit zu Hause verbracht und sich schlecht ernährt. Zumindest habe ich ihn so in meiner Kindheit und Jugend wahrgenommen. Schließlich hatte er einen starken gesundheitlichen Tiefschlag, verbrachte einige Zeit im Krankenhaus und blickte dem Tod schon so gut wie in die Augen, woraufhin er aufhörte zu rauchen. Doch der Grund dafür war in diesem Moment nicht sein persönliches Wohlbefinden. Es war eine Handlung aus Angst vor dem Tod. In den folgenden Jahren hatte er immer wieder Phasen, in denen es ihm mal besser oder schlechter ging. Doch abgesehen von seinen wirklich körperlichen Beschwerden, ging es ihm oft umso schlechter, weil er aufgrund seiner starken Angst immer wieder in Panik verfiel, was ihm und seiner sowieso schon schwachen Lunge nur noch mehr Luft raubte. Die letzten Jahre lebte er in Angst, abgeschottet von der Familie. Er kam nicht zu Geburtstagen, feierte Weihnachten allein und verpasste sogar die Hochzeit meiner Schwester. Angst kontrollierte sein Leben so sehr, dass es ihm sämtliche Lebensenergie raubte. Nur wenige Jahre später kam er wieder ins Krankenhaus, wo er nach kompletter Hilflosigkeit schließlich verstarb. Worauf ich hinaus will, ist, dass der Tod letzten Endes unvermeidbar ist. Mein Opa hat sich jedoch dafür entschieden, seine letzten Jahre in Angst zu verbringen, statt die Zeit und Tage, die ihm noch blieben, zu genießen, wertzuschätzen und mit den Menschen, die ihn liebten zu verbringen.

© Julia Jellinek 2023-07-19

Genres
Spiritualität