Poste restante – Postlagernd

Elisabeth Hofer

von Elisabeth Hofer

Story

Unsere Clique beschloss im Sommer 1973 die Welt zu erobern. Es war die Zeit der „Hippie Trails“. Sehnsuchtsziele waren Ibiza und Formentera, Marokko, Afghanistan, Nepal und Indien.

Ich war gerade 20 geworden. Eigentlich wollten mein Freund Charly und ich mit den anderen über Afghanistan nach Indien trampen, im letzten Moment legten meine Eltern jedoch ihr Veto ein. Offiziell schien ihnen die Situation in Afghanistan zu instabil, in Wahrheit war es wohl ihre Angst vor einer ihnen gefährlich und unklar scheinenden Welt: Man las ja immer von Marihuana, Gruppensex im Ashram usw., und was beim Trampen erst alles passieren konnte! Als Ersatz für das Veto gab mir mein Vater 10.000 Schilling, damit wir mit Zug und Hotelübernachtungen auf sicherem Weg Europa erkunden konnten.

Charly und ich fügten uns in das veränderte Reiseziel, beschlossen aber, am Trampen festzuhalten. Wir legten unsere neue Reiseroute fest: Paris, Marseille, Barcelona, Formentera und London, nicht so exotisch wie Indien, aber dennoch Sehnsuchtsorte: Paris und das Café Flore, in dem Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre aus- und eingingen, das Marseille aus dem Film „Borsalino“ mit Alain Delon und Jean-Paul Belmondo, das Barcelona des Antoni Gaudi, Formentera, die noch vom Tourismus unentdeckte Insel der langen, einsamen Sandstrände und schließlich Swinging London.

Unsere Freunde hielten weiterhin am Reiseziel Indien fest. Wir baten sie, uns aus Afghanistan einen Samowar mitzubringen, wir nahmen eine Bestellung für Stiefel aus Spanien und die Canterbury Tales aus London entgegen und vereinbarten, dass wir uns mindestens einmal postlagernd über unsere Erlebnisse schreiben würden. Als groben Zeitplan für die Korrespondenz machten wir Ende Juli aus, die Post für uns sollte postlagernd nach London, unserer letzten Station geschickt werden. Auch mit meinen Eltern vereinbarte ich Poste Restante in London, da wir dort am längsten zu bleiben gedachten.

Zwischen dem 10. Juli und dem 20. August 1973 trampten Charly und ich unvergessliche Wochen lang von einem zum nächsten Ziel auf unserer Route. Wir warteten nie mehr als 30 Minuten. Autostopp war eine gängige Form des Reisens, und wir wurden von vielen Eltern, deren Kinder ebenfalls auf diese Weise unterwegs waren, mitgenommen und oft auch verpflegt. Die längste, aber auch kurioseste Fahrt war in einem Leichenwagen von Barcelona nach Dünkirchen zur Fähre nach England. Ein Franzose war bei Barcelona im Meer ertrunken, sein Freund holte ihn mit einem Leichenwagen nach Hause.

In London erreichte uns schließlich am 11. August postlagernd ein Brief unserer Freunde, die nach Indien aufgebrochen waren. Er war am 18. Juli geschrieben worden, unsere Freunde saßen in Herat in Afghanistan fest, da der König am 17. Juli gestürzt worden war und die Republik ausgerufen wurde. Die Straße nach Kabul war gesperrt, Indien war unerreichbar geworden. Sie mussten umkehren. Unseren Samowar brachten sie mit.

© Elisabeth Hofer 2021-04-05

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