POV 5 – Abenteuer

Joana Oppermann

von Joana Oppermann

Story

Als du das Deck des alten Segelschiffes betrittst, herrscht an Bord bereits reges Treiben. Erfahrene Seeleute, deren Haut durch die jahrelange Sonneneinstrahlung schon tiefe Furchen aufweist, arbeiten Hand in Hand mit Schiffsjungen, die noch sichtlich grün hinter den Ohren sind. An Deck stapeln sich zahlreiche Kisten und Seesäcke mit den wenigen Habseligkeiten, die man auf eine monatelange Schifffahrt mit sich führen kann.

Der Kapitän, von dem du bislang nur mysteriöse Geschichten gehört hast, ist weit und breit nicht zu sehen. Er bleibt eine lebende Legende. Die dunklen Bohlen des Decks federn bei jedem deiner Schritte etwas nach. Selbst der noch verhaltene Wellengang im Hafen stört dein Gleichgewicht so sehr, dass du unsicher hin und her schwankst, was der Seemann neben dir bloß mit einem skeptischen Blick quittiert.

Inständig haben deine Eltern dich vor Antritt deiner Reise darum gebeten, daheim zu bleiben und etwas anderes zu lernen. Du hast es wirklich versucht – hast in der Hafenkneipe Getränke ausgeschenkt, in dem Büro des mürrischen Kaufmannes gearbeitet, sogar unzählige Fische hast du ausgenommen!
Trotz deiner Bemühungen warst du nie zufrieden. Der Ozean übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf dich aus. Er zieht dich in einen Bann, dem du dich nicht entziehen kannst. Du möchtest die Welt umsegeln, fremde Länder sehen, Abenteuer erleben! Tausende Seemannsgeschichten wurden dir schon erzählt: von Tiefseeungeheuern, Sirenen und anderen magischen Wesen. Du willst es mit deinen eigenen Augen sehen, damit du selbst davon berichten kannst.

Nun ist der Augenblick, den du so sehnsüchtig erwartet hast, endlich gekommen. Die fähigen Seeleute lösen mit geübten Handgriffen die Taue und richten die Segel aus. Das alte Schiff, das mit Sicherheit schon das ein oder andere Abenteuer erlebt haben dürfte, wird aus der schmalen Bucht manövriert und sticht in See. Die salzige Seeluft weht dir ins Gesicht und die Sonne brennt auf deinem Scheitel.
Ein letztes Mal blickst du zurück auf deine Heimatstadt, die in weiter Ferne immer kleiner wird, bis sie schließlich voll und ganz am Horizont verschwindet. Eifrig winkst du den winzigen Figuren an Land zu, doch sie können dich bereits nicht mehr sehen. Mit einem breiten Grinsen schaust du in die Gesichter der Menschen, die für die nächsten Monate deine engsten Vertrauten werden sollen. Sie erwidern es mit einem kurzen Nicken und drücken dir ein schweres Tau in die Hände.

Es fühlt sich so an, als hättest du endlich deinen Platz gefunden.


© Joana Oppermann 2023-09-01

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