von Lisa Neuland
Es gibt eine Aussage, die mich tatsächlich richtig quält: „Du musst nicht immer im Mittelpunkt stehen. Warte bist du dran bist.“ An sich wirklich kein schlimmer Satz. Das ist mir bewusst, aber die Gefühle, die, ich damit verbinde, sind kaum auszuhalten. Scham, Selbsthass, das Gefühl falsch verstanden zu werden und Ärger.
Die Situation war folgende: Ich war im Kindergarten (ja so lange trage ich das schon mit mir herum!) und wir haben Fasching gefeiert. Ich trug ein geblümtes rosa Kleid und eine selbstgebastelte Pappkrone auf meinem Kopf und trug meine damals weiß-blonden Haare offen. Ich war offensichtlich eine Prinzessin. Ich habe mich hübsch gefühlt. Ich erinnere mich, dass wir uns frei im Kindergarten bewegen durften. Wir durften auch die andere Gruppe besuchen, die sich über unserem Raum befand. Direkt neben dieser Gruppe war der Bewegungsraum. Und auch da durften wir hin. Das war ganz besonders cool, denn dort gab es eine Ecke, in der die Sportmatten gelagert wurden. Die Ecke war von dicken Vorhängen abgetrennt vom restlichen Raum. Das bedeutete, dass diese Ecke eine perfekte Höhle war, ohne das man irgendetwas machen musste. Das sollte mein neues Königreich werden. Und so suchte ich die nächste Erzieherin (bei uns haben nur Frauen in der Kita gearbeitet), um sie um Erlaubnis zu bitten, dass ich dahin darf. Es dauerte nicht lange und schon fand ich eine. Sie war gerade mit einem anderen Kindergartenkind aus meiner Gruppe im Gespräch. Das Mädchen fragte sie offensichtlich gerade ganz aufgeregt irgendwas. Ich mochte das Mädchen eh nicht. Da war es für mich natürlich naheliegend, dass sie bestimmt auch in die Ecke wollte und schon fragte. Ich wollte aber mein Königreich nicht teilen und war bereit es zu verteidigen. Da mir keine Ritter zur Verfügung standen, die diesen Krieg für mich kämpfen konnten, stürzte ich mich mutig selbst in den Kampf. Ich rannte also durch den Raum und rief: „Ich will auch.“ Weiter kam ich nicht, weil die Kindergärtnerin mich zum Schweigen brachte. (Sie musste eine böse Hexe gewesen sein.) Sie sagte die Worte: „Du musst nicht immer im Mittelpunkt stehen. Warte bist du dran bist“. Dann machte sie ein Foto von dem Mädchen. Hatte sich herausgestellt, dass sie mir gar nicht mein Königreich streitig machen wollte, sondern nur ein Foto von sich im Kostüm haben wollte. Dann meinte die Erzieherin, dass sie jetzt gerne ein Foto von mir machen könnte. Auf dem Foto sieht man, dass ich kurz vorm Heulen bin. Ich fühlte mich so überfahren, dass ich nicht mehr gefragt habe, ob ich die Ecke darf. Mein Königreich hatte eine würdigere Prinzessin verdient.
Ich weiß, das ist eine Kleinigkeit. Eine witzige 23 Jahre alte Anekdote. Aber immer, wenn mich jemand missversteht, fühle ich mich wieder wie damals. Ich knibbel nervös an meinen Fingernägeln herum, beiße die Zähne zusammen und versuche die Tränen weg zuzwinkern. Ich schäme mich für die Person, die die Erzieherin in mir sah. Ich hasse mich selbst dafür, dass ich nicht zwei Wörter mehr gesagt habe, oder wenigstens auf die Ecke gezeigt habe und ich ärgere mich über die Situation. Aber Fakt ist: Ich war ein Kind. Damals war ich erst fünf Jahre alt. Es war okay, dass ich von der Situation überfordert war.
Ich gebe der Hexe die Schuld.
© Lisa Neuland 2024-08-05