Procida ist nicht mehr, was es einmal war…

Hedda Pflagner

von Hedda Pflagner

Story
Procida, Insel zwischen Neapel und Ischia 2024

Einst war die Insel eine unbekannte, verborgene Schönheit. Die Bewohner blieben lieber unter sich. Jeder, der trotzdem hinfand, war verzaubert. Die engen Gassen mit den alten, vor sich hin bröckelnden, bunten Fassaden, die wenigen Geschäfte, die nur das verkauften, was man wirklich brauchte, die kleinen Restaurants, in denen man vorzüglich essen konnte und jederzeit einen Tisch bekam. Ein paar kleine Cafés am großen Hafen. Die lauten Mopeds und wenige Autos mit vielen Schrammen und angerostet, streunende Katzen und Hunde, freundliche Menschen, die neugierig waren, woher man kam und verwundert, was hier Fremde wollten. Alles das trug bei zum einzigartigen Flair dieser versteckten südlichen Schönheit. Schön ist sie noch immer, die Insel, dessen war man sich wohl bewusst, als man sich bewarb, Kulturhauptstadt zu werden. 2022 war es dann so weit. Seither ist alles anders. Procida ist kein Geheimplatz mehr. Jede Menge von Touristen wälzen sich die engen Gassen hinauf. Der schmale Linienbus, der sich schon früher durch atemberaubende Engen manövrierte, hat kaum noch Chancen durchzukommen. In jedem Haus sind Läden eingezogen, die den üblichen Touristenramsch verkaufen. Musikfetzen wabern durch die Gassen. Sie verpuffen im Chaos. Menschenmassen überall. Der schönste Blick Italiens auf den Fischerhafen Corricella, ist immer noch schön, nur, er ist jetzt so überlaufen, dass man sich anstellen muss, um an die Mauer zu gelangen, um selbst das Wunderfoto zu machen. Eigentlich braucht man das ja gar nicht mehr, denn es prangt jetzt überall – für eine Leihwagenfirma in Neapel, selbst am Flughafen und vielen anderen Orten, die rein gar nichts mehr mit Procida zu tun haben. Alles schmückt sich mit seiner Schönheit. Wie konnte es so weit kommen? Wieso hat Procida sich so verkauft? Alles nur des Geldes wegen, das man damit verdient? Seit 3 Jahren ist der Palazzo d’Avalos wieder zugänglich, eine mächtige, alte Festung mit abwechslungsreicher Geschichte. Unter anderem beherbergte er noch bis in die 1970er Jahre Italiens schlimmstes Gefängnis, in dem Schwerstverbrecher mit politisch Verbannten nebeneinander darbten. Als ich zum ersten Mal hineindurfte, blieb mir der Atem weg, so furchteinflößend war die Vorstellung, dass hier Menschen vegetieren mussten, egal, was immer ihnen zur Last gelegt wurde. Da zeigte man die Schlafzelle, Eisenbett an Eisenbett eng aneinander gereiht, ein Ärztezimmer mit einem Stuhl, der mehr an ein Folterinstrument erinnerte als an einen Behandlungsstuhl. Allein ihn zu berühren, löste grausige Fantasien aus. Heuer waren die Räume durch ein Gitter abgesperrt. Drinnen wiederholte sich eine haarsträubende Videoinstallation. Ein stöhnender am Stuhl liegender Gefangener und ein Arzt, der sich über ihn beugte. Am laufenden Band. Widerlich, ich wendete mich ab. Auch moderne Technik kann man so einsetzen, dass nichts von dem einstigen Grauen verloren geht. Und unten am kleinen Hafen von Corricella, mit dessen Bild sich alle schmücken, hab ich heuer erstmals keinen Platz mehr bekommen. Selbst dort, wo ich seit vielen Jahren Stammgast war. Nichts zu machen, vielleicht irgendwann später? Der Wirt, den ich so lang kannte, hat aufgegeben, der Stress war ihm zu viel. Ob ich im nächsten Jahr wieder hinfahren werde? Ich weiß es noch nicht…


© Hedda Pflagner 2024-05-19

Genres
Romane & Erzählungen, Reise
Stimmung
Dunkel, Informativ, Reflektierend
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