von Iris Kölbl
Wenn man abends die Straßen entlang spaziert und schon das laute Grölen aus der Seitengasse hört, weiß man sie sind in der Nähe. Ohne Scheu gehen sie auf Andere zu, suchen Ärger und wollen sich mit Anderen schlagen. Es ist gefährlich in der Dunkelheit bestimmte Straßen entlangzugehen oder sich an uneinsichtigen Plätzen aufzuhalten. Wenn man Glück hat, begegnet man ihnen nicht und kann in Ruhe nach Hause gehen. Manchmal hat man aber auch Pech und dann stehen sie plötzlich vor einem. Sie wandern nie alleine herum, mindestens zu zweit sind sie, doch der hier ist nur mit sich selbst unterwegs.
Tiefe blaue Augen, die Seiten auf null und die restlichen Haare aufgestellt. Springerstiefel, Baggiehose und ein dunkles T-Shirt, das den durchtrainierten Oberkörper betont. Er ist sicher einen Meter achtzig groß und man selbst wirkt wie ein Kind, wenn man ihm gegenübersteht. Du merkst, dass seine Ausstrahlung bedrohlich wirkt und hast bereits von Geschichten gehört in denen Passanten mit Migrationshintergrund von genau solchen Menschen brutal zusammengeschlagen wurden. Du schaust ihm in die Augen und glaubst all diesen Erzählungen. Langsam spürst du eine aufsteigende Hitze in deiner Brust, die in deinen Kopf übergeht. Panik breitet sich im Körper aus. Du möchtest wegrennen, bist aber wie erstarrt. Deinen restlichen Mut nimmst du dir, um ihm weiter in die Augen zu sehen. Versuchst ihm zu zeigen, dass du keine Angst hast. Dir fällt auf, dass seine blauen Augen seinen Reiz haben. Wieso denkst du so etwas?
Langsam schweift dein Blick ab und du beginnst ihn dir genau anzusehen. Sein linker Arm ist komplett tätowiert. Er ist gut trainiert, wirkt sehr stark und du denkst, dass er dich ohne Probleme wie ein Kleinkind hochheben könnte. Als eure Augen sich wieder treffen merkst du, dass er nicht einmal den Blick abgewendet hat und dich ganz genau ansieht. Dein Herz macht einen Sprung. Diese Situation kommt dir immer surrealer vor.
Er ist viel älter als du, um mindestens zwanzig Jahre. Er ist ein richtiger Mann. Nicht so ein Junge wie du sie sonst kennst. Seine Reife übersteigt deine, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so wirkt. Mit der Zeit vergeht deine Angst und du kannst nicht mehr aufhören ihn anzustarren. Ein zweites Mal wird dein Körper von Adrenalin durchströmt. Dieses Mal ist es keine Panik. Es ist das große Interesse an diesen Mann.
Die Zeit scheint still zu stehen, zumindest kommt es dir so vor. Dein Herz klopft mittlerweile so laut, dass du Angst hast, dass er es hören könnte. Selbst deinen eigenen Atem nimmst du nicht mehr wahr. Ihr seht euch lange in die Augen und vergesst alles andere um euch herum. Aus einer Seitenstraße kommt ein lautes Geräusch, als wäre eine Katze auf eine Mülltonne gesprungen. Es reißt dich aus den Gedanken und du zuckst zusammen. Auch er erschreckt sich. Ihr beide fangt unweigerlich an zu lachen.
Als ihr euch wieder beruhigt habt, räuspert er sich und fragt, was du heute noch so vorhast. Du wirst rot im Gesicht und hoffst, dass er es nicht sieht. Du entschuldigst dich, dass du leider wirklich nach Hause musst, weil es schon so spät ist. Er nickt verständnisvoll mit einem Lächeln und verschwindet in der nächsten dunklen Seitengasse. Dein Herz klopft noch immer.
© Iris Kölbl 2023-07-10