Prolog

Marie-Luise Drilling

von Marie-Luise Drilling

Story
In meiner Welt

Ich lebe in einer großen Stadt voller Menschen. Und mit jedem Menschen kommt eine neue Welt dazu. Jeder trägt seine eigene Sicht, seine Gedanken und seine eigene Uniform.

Bunte Kleider, Mützen aus Pelz, ein Fuß ohne Schuh.

Die meisten Welten beachten einander nicht. Es ist als würde man die Präsenz der anderen Realitäten nicht sehen können. Hastig laufen die einen an den anderen vorbei. Alle sind so vertieft in ihre Gedanken, dass sie einander nicht wahrnehmen können.

Es gibt nur eine Instanz, die alle Welten in meiner Stadt zusammen bringt: Der Regen.

Wann immer es regnete, trafen sich alle auf der Flucht vor der Nässe unter den Brücken der Stadt. Menschen in viel zu feiner Kleidung stehen neben denen, die unter der Brücke lebten. Kinder, unterbrochen in ihren Spielen, Studenten auf dem Weg zur Universität und völlig verlorene Touristen. Vereint in dem Warten und der Uneinigkeit darüber, wie man diese Zeit überbrücken sollte sehen sie einander zum ersten Mal an. Ich habe eine ganze Sammlung von Menschen unter Brücken. Es war als, würde diese Unterbrechung im Leben aller und die Irritation der wilden Zusammenwürflung dazu führen, dass man die Welten um sich herum zum ersten Mal aktiv wahrnahm. Diese Erkenntnis im Gesicht der anderen war eines meiner liebsten Motive.

Ich habe mir diesen Anblick versucht zu verinnerlichen, damit ich ihn später aufzeichnen konnte. Und wenn ich meine fertigen Bilder betrachtete, fragte ich mich oft, welche Welten hinter meiner Sammlung von Gesichtern schlummern. Zu gern hätte ich die Seite gewechselt und durch die Augen meiner Zeichnung die Welt gesehen. Alles was man sieht, sieht man mit einem eigenen Geist. Man ist so vertraut mit seiner eigenen Welt, dass es einem schier unmöglich vorkommt an eine andere Welt zu glauben.

Ich habe schon immer gerne in anderen Welten gelebt. Schon als Kind schuf ich mir Orte, an denen alles anders war. Ich baute Buden in meinem Kopf, schuf Freunde, die mich verstanden.
Am meisten liebte ich die Welt nach dem Regen. Der Boden war noch ganz nass und reflektierte auf unzählige Art und Weise die Lichter der Stadt. Es war als würde jede Pfütze ein eigenes Stück Stadt in sich tragen. Und wenn man sich Pfützen ganz genau ansieht, dann sehen sie aus wie Seen. Das Moos herum grenzt an das Wasser wie ein Wald. Und ich, 17 Meter hoch, blicke hinab auf die endlose Landschaft. Oft habe ich mir vorgestellt, dass der Himmel den die Pfütze zeigt, gar nicht mein eigener ist. Ich habe mir vorgestellt, dass man durch den See hindurchblickt auf einen Himmel auf der anderen Seite.

Wenn es so wäre, würdest du den Schritt gehen?

Dieses Buch handelt von meiner Welt und den Bewohnern in ihr.
Da mir oft die Worte fehlen, habe ich sie euch gezeichnet.


© Marie-Luise Drilling 2024-03-04

Genres
Science Fiction & Fantasy
Stimmung
Abenteuerlich, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Unbeschwert