Ihre nackten kleinen Beine baumelten über dem schwarzen Wasser, ihr großer Zeh streichelte die ruhige Oberfläche. Das Wasser kräuselte sich trotzig, als wäre es wütend, dass sie es geweckt hatte. Es war kalt. Aber das war nicht schlimm. Denn es war so kalt wie sie selbst. So kalt, dass man sie mit einer Toten verwechseln würde. Sie legte den Kopf in den Nacken, sah hinauf. Der Himmel war so weit weg von ihr. Die Nachtschwärze starrte zurück und richtete sich vor ihr auf, wie eine dunkle Leinwand. Der Mond klebte daran, es spiegelte sich sein trostloses graues Gesicht auf der Oberfläche des Sees. Und als sie es ansah, hatte sie kurz das Gefühl, ihr eigenes Spiegelbild anzusehen. Ihre eigene bleiche Haut. Aber das war nicht sie, das wusste sie. Denn es war kein riesiges eisblaues Auge, dass sie aus dem Spiegel heraus anstarrte. Sie lehnte sich weiter über das Ufer, die gesplitterten Krallen ihrer knochigen Finger schnitten das Wasser, dass es sich erneut widerwillig kräuselte. Ihre graue Haut schimmerte nass. Grau von den ganzen Narben. So viele Narben. Kaum gab es noch eine Stelle, die nicht von grauer vernarbter Haut überzogen war. Aber auch das war nicht schlimm. Denn sie lebte ja schon so lange. Solange, dass sie sich an den Großteil ihres Lebens kaum noch erinnern konnte. Der nasse dunkel-türkise Stoff ihres Kleides klebte an ihrem dürren Körper. Abgezehrt war er. Die Menschen erzählten von ihr. Und auch die, die nicht an die Geschichten glaubten, hielten sich von den Ufern in Maria Laach fern, denn sie warnte der unlogische Aberglaube. Dabei wollte sie doch gar nichts Böses. Sie wollte doch nur spielen. Der schleichende Wind trocknete ihre langen schlammgrünen Haare. Ganz dünn waren sie, wie Spinnweben wuchsen sie aus ihrer schuppigen Kopfhaut. Sie sah sich auf der unruhigen Wasseroberfläche, direkt neben dem toten Gesicht des Mondes. Sie wusste nicht, wieso sich die Menschen fürchteten. Sie lächelte. Ein kleines, liebes Lächeln, hinter dem ihre bleichen Haizähne hervor starrten. Um sie tanzten scheulos dichte Schwärme von fetten hungrigen Mücken. Ihre milchig blaue Zunge leckte über ihre farblosen Lippen. Sie selbst fand sich wunderschön. Manchmal war sie traurig. Sie war alleine. Ihr ganzes Leben. Und ihr Leben war lang, beinahe eine Ewigkeit. Aber die Menschen. Ihr eines eisblaues Auge sah über den düsteren See hinüber, zu dem Kloster, wo sie sich versteckten. Die Fenster leuchteten wie brennende Augen aus der lichtlosen Nacht. Die Menschen. Sie gingen so schnell kaputt. Sie verstand es nicht. Erst riefen sie, und rannten, so wollten sie doch mit ihr spielen. Und dann. Dann sagten sie auf einmal gar nichts mehr. Sie stand auf, ihre nackten Füße versanken im zähen Morast. Ihr Kleid. Es war das Wasser des Sees, dass sich wie tintenblauer Stoff schützend um ihre Schultern gelegt hatte und sie umfloss. Leise tauchte sie unter seine Oberfläche, sie wusste, dass der See lange schlafen wollte. Das Wasser umarmte sie, die einsame Tochter des Sees. Sie tauchte so weit, bis der graue Schatten des Mondes über ihr in der Düsternis verschwunden war. Da unten, da waren auch die Menschen. Ihre glasigen Augen starrten ihr aus dem schwarzen Wasser entgegen. Sie verstand es nicht. Erst riefen sie, und rannten, so wollten sie doch spielen. Und jetzt. Sie glitt zwischen ihnen hindurch, ihr schlammgrünes Haar wand sich wie die schlierenden Algen des Sees in der Strömung. Jetzt sagten sie gar nichts mehr.
© Pauline Marisol Schrank 2024-08-18