Prolog: Die rote Linie

SelinaVale

von SelinaVale

Story

Die Luft war schwer, als ob der Raum die Ereignisse in sich aufgesogen hätte. Jede Ecke schien mich zu beobachten, still und doch drückend. Mein Herz pochte in einer Geschwindigkeit, die ich nicht kontrollieren konnte, während meine Hände feucht und zittrig waren. Ich erinnere mich an das Gefühl, wie die Worte „Ich will nicht“ meinen Mund verließen – ein Satz, der so klar, so deutlich und so unmissverständlich sein sollte. Doch es war, als ob sie gegen eine unsichtbare Wand prallten, lautlos verhallten und ihre Bedeutung verloren.

Es war keine Frage mehr, keine Möglichkeit, es anders zu verstehen. Mein „Nein“ war keine Einladung zu Diskussionen, kein Spiel. Es war der klare Versuch, mich selbst zu schützen, mich zu retten. Doch in seinen Augen war es nichts als ein Hindernis, das überwunden werden musste. Er lächelte, aber es war kein Lächeln, das Trost spendete. Es war eines, das alles über mich hinwegsetzen wollte – meine Worte, meinen Willen, meine Existenz.

Die Minuten zogen sich wie Stunden. Jede Bewegung war ein Bruchstück dessen, was ich war. Ich fühlte mich wie ein Puzzle, das jemand ohne meine Zustimmung auseinander zerriss. Während ich dort saß, gefangen in diesem Alptraum, formte sich in mir eine bittere Wahrheit: Es war nicht nur mein Körper, der angegriffen wurde, sondern alles, wofür ich stand. Mein Recht, „Nein“ zu sagen. Mein Recht, gehört zu werden. Mein Recht, zu existieren, ohne die Furcht vor einem „Ich höre nicht auf dich“.

Ich erinnere mich daran, wie ich versucht habe, mich aus der Situation zu winden, Worte zu finden, die mehr Wirkung hatten als mein erster, unmissverständlicher Widerstand. Ich dachte, vielleicht würde er zur Vernunft kommen, vielleicht würde er innehalten. Doch es gab keinen Funken der Erkenntnis in seinen Augen, nur ein kaltes, bestimmtes Wollen.

Was folgte, fühlte sich an, als ob die Welt mich im Stich ließ. Es war ein Moment, in dem ich erkannte, dass die rote Linie, die ich gezogen hatte, für ihn keine Bedeutung hatte. Eine Grenze, die ich glaubte, dass jeder respektieren würde, wurde mit einer Selbstverständlichkeit überschritten, die mich sprachlos machte.

Jetzt, wenn ich zurückblicke, sehe ich nicht nur die Tat. Ich sehe die Stille, die darauf folgte, das Unausgesprochene, das Gewicht des Moments, das immer noch in mir nachhallt. „Ich will nicht“ – dieser Satz hat mich definiert, nicht durch seine Wirkung, sondern durch das, was danach kam.

Dieses Buch beginnt hier. Mit diesen Worten, mit dieser Linie, die nicht nur für mich, sondern für jeden, der jemals das Gefühl hatte, überhört zu werden, gezogen wurde. Das ist mein Anfang, aber vielleicht auch deiner.


© SelinaVale 2024-12-26

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Dunkel, Emotional
Hashtags