von Janine Leine
Zahllose, weiße Flocken suchten sich ihren Weg, an Talvi vorbei. Bedauerlicherweise wollten sie nicht in dieselbe Richtung wie sie und erschwerten so den Weg durch den Wald. Es war, als würde der Schneefall mit jedem Schritt, den sie voran trat, dichter und der Wind kälter werden. Talvi hatte gewusst, dass es im Norden kalt würde. Man nannte diesen Landstrich nicht umsonst das endlose Eis. Doch wie kalt, das hätte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht ausmalen können. Die junge Frau war in einen abgetragenen, schwarz-weißen Wollmantel gehüllt, der einige Flicken aufwies. Er hielt einen guten Teil der Kälte ab. Doch nach den langen Tagen der Wanderung war der eisige Wind ihr bis in die Knochen gedrungen und verbreitete ein unangenehmes Stechen in Händen und Füßen. Auch Handschuhe und Stiefel waren nicht in bestem Zustand. Eine Leihgabe ihrer Mentorin. Beides war viel zu groß für die zierliche Frau. Doch war Talvi froh um den Schutz, den die lumpigen Kleider ihr boten. Bald schon würde sie sich selbst vor dem Frost schützen können. Nur eine letzte Prüfung noch. Lediglich dieser eine, leidvolle Weg, dann wären die langen Jahre des Studiums beendet. Sofern sie die Aufgabe meisterte, die man ihr gestellt hatte. Es galt den Geist zu bezähmen, welcher den Kristallwald seit so vielen Jahren unpassierbar machte. Ein elementares Wesen des Eises, welches zahlreichen Wanderern einen eisigen Tod bescherte. Seid ihrer frühen Kindheit hatte Talvi sich auf diesen Tag vorbereitet und doch war sie sich nicht sicher, was nun auf sie zukam. Man hatte sie vieles darüber gelehrt, wie mit Elementaren umzugehen sei. Doch wie das Ritual selbst ablief, darüber hatte man sich stets nur vage geäußert. Ihre Mentorin Isabella hatte gemeint, man könne dafür keine Anleitung geben. Jeder der Geister sei Anders. Man müsse es auf sich zukommen lassen und dann würde der Rest von allein geschehen. Es wäre nur wichtig, stets die Oberhand zu behalten. Worte die zunächst ganz hilfreich geklungen hatten. Nun, da die Begegnung kurz bevor stand, brachten sie Talvi jedoch ins Grübeln. Was, wenn sie eben nicht wusste, was sie tun müsse? Was, wenn der Geist nicht für eine Zusammenarbeit bereit war? Man hatte ihr deutlich gemacht, dass sie nicht die Erste wäre, die an ihm scheiterte. Eine Handvoll Acolythinnen hatte man in den letzten zwanzig Jahren zu ihm gesandt, doch gezähmt hatte ihn keine. Ebenso wie man keine der Frauen je wieder sah. Doch sie würde es schaffen, rührte sich der Stolz in Talvi. Sie hatte ihr Wort gegeben, dass sie nicht scheitern würde. Sie war besser als alle Anderen, welche die magischen Künste studierten. Sie hatte alle Schriften ihres Ordens verinnerlicht, jede Formel und jede Weisheit studiert. Ihr Wissen bot ihr die notwendige Grundlage. So hoffte sie. Der aufkommende Sturm riss sie aus ihren Gedanken. Der Schleier schützte ihre Augen vor dem Schnee, doch stach die Kälte an Wangen und Stirn. Der starke Schneefall machte es unmöglich, noch eine Handbreit zu sehen. Sie musste ihrem Ziel bereits sehr nahe sein. Der Schnee reichte Talvi mittlerweile bis zu den Knien. Es war ihr kaum möglich, noch weiter voranzuschreiten. So sehr ihr Wille sie auch vorantrieb, ihr Körper gelangte nun endgültig an seine Grenzen. Sie brauchte eine Pause.
© Janine Leine 2024-05-15