Psychotherapie ist was für Weicheier

Psychotherapie ist was für Weicheier, denkt Martin laut vor sich hin. Er muss an sich halten, damit seine Wut ihn nicht übermannt.
Was denkt er eigentlich, wer er ist? Kennt mich ja gar nicht richtig.

Sein Arzt hatte ihm nach der Beantwortung eines Fragenkatalogs den Diagnoseverdacht auf eine Depressive Störung gegeben. Und ihm auch noch vorgeschlagen, eine Psychotherapie zu besuchen. So ’ne Therapie machen doch eigentlich nur so Lappen, die ihr Leben selbst nicht auf die Reihe bekommen oder?

So einer will Martin auf keinen Fall sein. Fremden Menschen gegenüber über sich selbst jammern. Das passt einfach nicht in sein Männlichkeitsbild.

Schon damals als Kind fand er es lächerlich, wie andere Jungs an Mamas Rockzipfel hingen und flennten wie kleine Mädchen. Seine Mutter hatte für eine ausufernde Gefühlsduselei auch wenig übrig. Von seinem Vater ganz zu schweigen. Überhaupt wurde in Martins Familie oft geschwiegen. Wenn er sich so zurückerinnert, fallen ihm Konfliktmomente ein, die entweder eskalierten oder totgeschwiegen wurden.
Manchmal wünschte er sich, er hätte sich öfters für sein Verhalten entschuldigt. Oder Entschuldigungen erhalten.

Heutzutage drängen sich die Gefühle und Befindlichkeiten der Menschheit so in den Vordergrund, dass sie ihn regelrecht anspringen. Ist das nicht schon eine Form von Belästigung? Wieso können die Leute sich nicht einfach zusammenreißen?, regt er sich auf. Unverhältnismäßig stark.

Sabine, seine Ehefrau, findet die Idee mit der Therapie natürlich wieder gut. Sie ist anfällig für Psychogeschwätz. Meint, das würde auch unserer Ehe guttun. Sie tut, als hätten wir eine schlechte Ehe. Dabei wusste sie doch von Anfang an, wie ich bin. Na gut, in letzter Zeit hab ich mich schon etwas zurückgezogen. Die Arbeit ist eben anstrengend. Abends kann ich mich nicht auch noch mit ihr beschäftigen. Meine Gedanken schweifen einfach ab und ich starre nur noch durch den Fernseher hindurch.

Nach der anfänglichen Wut über den Vorschlag seines Arztes, beruhigt Martin sich etwas.
Er sackt in seinem Schreibtischstuhl zusammen. Der Fragenkatalog in der Sprechstunde hat ihn aufgewühlt. Die Fragen zu seiner Familie, seiner Ehe und vor allem zu seinen Gefühlen und seiner Stimmung konnte er häufig nur mit negativen Sätzen beantworten.

Wie oft fühlten Sie sich im letzten Monat niedergeschlagen?, fragte der Arzt.
Manchmal, war Martins zögerliche Antwort.

Wäre er noch ehrlicher gewesen, hätte er IMMER geantwortet.

Jetzt am Schreibtisch überkommt ihn die Verzweiflung.
Und er beginnt zu flennen.
Nicht wie ein Mädchen.

Sondern wie der kleine Junge, der damals nie geweint hat.