Pullover mit Elch

AviaRay

von AviaRay

Story

Der Schnee knirschte unter Emilys zerschlissenen Stiefeln. Wie eine kalte, schützende Decke hatte er sich still und leise über Nacht über das braune Laub gelegt, was gestern noch aufgepeitscht durch die Straßen wirbelte. Die Zeit der Kälte hatte begonnen. Kälte, die Altes erfrieren lässt. Hitzige Gemüter abkühlt. Den Sommer verstummen lässt. Um Ruhe und Gelassenheit zu schaffen. Für einen neuen Frühling. Einen neuen Sommer.

Die Flocken verfingen sich in Emilys zerzaustem Kupferschopf. Landeten federleicht auf ihrer sommersprossigen Nase. Sie zog ihren verblichenen, karierten Wintermantel fester um die Schultern. Ausgerechnet heute war die S-Bahn ausgefallen. Weiche vereist. Emily musste den Weg zum Arbeitsamt zu Fuß bestreiten. Sie durfte nicht zu spät kommen. Sonst drohten Strafen. Weniger Geld. Dabei kam sie jetzt schon kaum über die Runden.

Konnte sie etwas dafür, dass die S-Bahn ausgefallen war? Konnte sie etwas dafür, dass sie sich kein Taxi leisten konnte? Strafen für äußere Umstände, an denen sie nichts ändern konnte. Genau, wie das Leben sie bestraft hatte als ihr geliebter Mann Max vor einem Monat von seinem Einsatz im Irak nicht zurückkehrte.

Schniefend zog Emily die Nase hoch. Was hatte sie getan, um so bestraft zu werden? Das Leben war nicht fair.

Weihnachten stand vor der Tür. Das Geschenk für Max lag in tannengrünes Papier gewickelt mit roter Schleife verziert im Kleiderschrank.

Er würde es niemals auspacken.

Sie würde niemals seine leuchtenden Augen sehen, wenn er den dicken selbst gestrickten Pullover mit dem dumm dreinschauenden Filzelch auf der Brust in den Händen hielt. Heiße Tränen vermischten sich mit eiskalten Flocken im sommersprossigen Gesicht.

„Haben Sie vielleicht n Euro, wat warmes zu Trinken?“, riss eine krächzende Stimme Emily aus ihren Gedanken.

An einen schwarzen, kahlen Baumstamm gelehnt hockte ein verwahrloster Obdachloser im Schnee. Er war dürftig in Lumpen und Zeitungspapier gewickelt. Seine Zähne klapperten. Bestürzt hielt Emily inne, getroffen von der Leere und Hoffnungslosigkeit in seinen eingefallenen Augen.

Was hatte er getan, um so bestraft zu werden? Das Leben war nicht fair!

Entschlossen streifte Emily ihren karierten Wintermantel ab und legte ihn dem klapperigen Mann um die hageren Schultern.

„Bin gleich wieder da, ich hol nur schnell was.“, versprach sie.

Bestimmt machte sie kehrt, wischte sich entschlossen die Tränen aus dem Gesicht und eilte durch die wirbelnden Schneeflocken zurück zu ihrer Wohnung.

Scheiß auf das Arbeitsamt mit seinen Fristen!

© AviaRay 2022-11-18