von Michael Stary
Komplett entzückt stehe ich vor dir. Du, am Barhocker in der offenen Küche des Lofts, an den roten Vintage Kühlschrank gelehnt. In noch nie erlebter Energie rappst du mir unter digitaler Anleitung deinen aktuellen Lieblingshit vor. Mädchen gegen Jungs, das Apfel-Musik-Streaming macht es immer und überall möglich. Meine Augen leuchten, dein Körper bewegt sich völlig selbstverständlich zu den Beatbox Takten und weckt auch in mir alte HipHop Gefühle aus meiner DJ-Zeit. Wenn der Beat kickt, bin ich drin. Jede Faser meines Körpers wird durch den Bass angesprochen und fühlt sich eingeladen, dem weiterlaufend in Form von Bewegung Ausdruck zu verleihen. In dir dieselbe Art und Weise vorzufinden fasziniert mich.
Deine Interpretation des Songs lässt das Herz deines Vaters warm werden. Der Blick zu dir wird weich, meine Augen können nicht mehr von dem abweichen, was du mir in diesem Moment bietest. Auf der Stelle bin ich um den Finger gewickelt. Ohne, dass du es weißt und ich es zuvor wusste, hast du mir gerade eine so unbeschreibliche, nicht erwartete Freude gemacht, indem du deine Gabe zur Schau stellst und dich entsprechend deines Wesens ausprobierst und zeigst.
Geht da noch mehr an Liebe frage ich mich?
Das nächste Lied wartet und wir kommen wieder in den Tanz. Unter aufrichtigem Lachen bewegen wir uns zusammen und die Zeit steht, an diesem zweiten Advent eines Jahres der reinen Konfrontation, still. Auch wenn die Schlafenszeit so langsam naht. Deine Kunst, die Zeit anzuhalten und den gemeinsamen Moment ins Unermessliche auszudehnen, wächst mit Mal zu Mal. Sie bringt mein Schema von Stunden und Minuten unter Zugzwang und ordentlich durcheinander. Chaos im geglaubt kontrollierten Raum breitet sich aus. Ich ergebe mich. In Leichtigkeit mittlerweile, da sich herausstellte, dass der Kampf gegen den Kontrollverlust immer ziemlich in die Hose ging. Du, meine größte Lehrerin.
Der plötzliche, neue Alltag ist nicht vergleichbar mit meinen sonst gängigen Routinen, doch ich stimme mich, so gut es geht, auf diese begrenzte Sequenz mit dir ein und zügle meine Vorstellungen der eigenen Selbstbestimmung. Auch, wenn diese zumindest den Rahmen für unsere Blase der ganz eigenen Realität bereitstellt. Wenn du zu Besuch bist erleben wir wertvolle, exklusive Zeit. Auch wenn das Eingrooven sicher 24h braucht, nachdem wir uns wieder beschnuppert haben und die Lage checken. Wer bist du, wer bin ich? Wer ist das jetzt, der plötzlich wieder da ist? Was geschah dazwischen? Alles unausgesprochene Fragen im Raum, die wie Teilchen durch das Stadium des Neubeginns schweben.
Das alles ist Zweisamkeit auf Raten. Wir tanzen und singen im derzeitigen Leben nicht immer miteinander. Wir essen und sprechen nicht täglich. Nur zu wenigen Anlässen im Monat begleite ich dich in den Schlaf. Und schlafe dabei neuerlich auch selbst immer wieder ein, obwohl die nun früh einsetzende, winterliche Dunkelheit mir noch seltene Ruhemomente für mich schenken würde.
© Michael Stary 2020-12-09