Seit ich vor ein paar Jahren entlang der deutschen Ostseeküste reiste, taucht ein Satz immer wieder in meinem Kopf auf: “Als Malte von Putbus Rügen verlassen musste …”. Ich habe nachgeforscht, woher dieser Satz kommt, aber ich konnte nichts finden. Vermutlich stammt er aus einem Reiseführer, aber es letztlich egal. Wichtiger ist, wohin er mich führt.
Warum mich dieser Satz so fasziniert, ist schwer zu sagen. Vermutlich ist es zuerst einmal der Name, denn das geht mir oft so. Namen bewirken Geschichtenfolgen. Malte führt mich zu Malte Laurids Brigge von Rilke, einem tief melancholischen Werk, das ich in meiner literaturüberfrachteten Jugend gelesen habe. In Österreich begegnet einem der Name Malte nie. Malte ist purer Norden für uns.
Und dann Putbus! Einer jener magischen Namen, deren Herkunft man eher erahnt als weiß. Altslawisch soll es sein. “pod” bedeutet “hinter” oder “unter”. Puttgarden fällt einem noch dazu ein, es ist derselbe Ursprung. Und Putbus ist ein verzauberter Ort, zauberhaft und traurig zugleich. Eine Planstadt aus der Zeit des Klassizismus, irgendwie zu kühl, zu weiß und zu gewollt. Und dann der leere Platz am Teich im einsamen Schlosspark, wo einst Schloss Putbus stand. Weggeräumt zu DDR-Zeiten. Wer braucht schon ein Schloss.
Ich dachte, Malte von Putbus sei von den Russen vom Sitz seiner Familie vertrieben worden. Man kennt die vielfach geschilderte Geschichte der Flucht aus dem Osten. Königsberg, die Flüchtlingszüge über das zugefrorene Haff, das Einbrechen der Pferdefuhrwerke im Eis, der Untergang der Wilhelm Gustloff. Längst auch zu Literatur geworden und doch bittere Wahrheit.
Eisberge schauen bekanntlich nur zu 10% aus dem Wasser, der Rest bleibt verborgen. Die Eisbergtheorie hat ihren Weg in viele Gebiete genommen, auch in die Literatur. Da geht sie angeblich auf Hemingway zurück, der für seine Werke postulierte, nur 10% niederzuschreiben, der Rest müsse erschlossen werden. Für die Geschichte des Malte von Putbus ist selbst das noch zu viel, da liegt höchstens 1% deutlich sichtbar über Wasser. Man glaubt, sich den unsichtbaren Untergrund dieser Geschichte aus allgemeinen Kenntnissen ableiten zu können, aber in Wahrheit war alles ganz anders.
Nicht die Russen vertrieben Malte von Putbus, sondern die eigenen Parteifreunde, denn er sympathisierte durchaus mit den Nazis. Der Streit begann, als er die erzwungene Abtretung eines Stückes seines Landes an die Partei als ungerecht empfand. Auf diesem Land steht nun das unvollendete Seebad Prora. Ein gespenstischer Ort, riesige Wohnblöcke im Nichts an einem einsamen Strand, die einst für die “Kraft durch Freude”-Bewegung begonnen und später von der DDR teils militärisch genutzt wurden. Der Streit mit der NSDAP endete mit Malte von Putbus ungeklärtem Ende im KZ Sachsenhausen. Als die Russen nach Rügen kamen, war er schon tot.
Nicht 90% der Geschichte waren unter Wasser, sondern 99%. Wie so oft ist nahezu gar nichts so, wie man es vermutet.
© 2022-10-29