von Jamal Tuschick
Das Klo auf halber Treppe ist oft besungen worden. Es war nicht beheizbar. Man stieg mit seinem Papier (nicht unbedingt von der Rolle, manche nutzten mit dem Lineal in Streifen gerissene, irgendwo aufgelesene Zeitungen) ins Treppenhaus und erfuhr vor Ort oft mehr als man wissen wollte. Wer oben auf war, musste nicht leise scheißen. Unter diesen Umständen verkümmerte die Verdauungsscham. Niemand träumte vom eigenen Klo, alle träumten vom eigenen Auto. Obwohl Sauberkeit und Ordnungsliebe die Hausfrau adelten, herrschte eine klandestine Drecktoleranz. Da man dem Stoffwechsel der Anderen nicht ganz entgehen konnte, weitete sich das Familiäre und streifte der Hausgemeinschaft einen Pyjama der Vertraulichkeit über, in dem man per Sie blieb. Ich wusste über Frau Hein nicht ernsthaft schlechter Bescheid als über meine Mutter. Frau Hein achtete auf mich, wenn meine Mutter keine Zeit hatte. Frau Hein erzog ihre Kinder drakonisch, meinte es aber nur gut und erinnerte gern daran, was ihr alles nicht geschadet hatte. Manchmal widmeten wir einen Nachmittag dem leidigen Thema Aufessen. Ich will noch die Badewanne in unserer Küche erwähnen, die mit einer Platte abgedeckt, zum Esstisch wurde. Es gab noch nicht die Gemeinschaftswaschmaschinen im Keller. Die Frauen wuschen von Hand und brachten die besten Stücke in die Reinigung. Weißsteife Tischdecken waren ein Leistungsbeweis. Dann zogen wir in ein Siedlungshaus mit Zentralheizung und Waschkeller. Meine Mutter jubelte. So sah die Zukunft aus. Die moderne Hausfrau lieferte einer großen Erzählung die Heldin, lange bevor die Familie nicht ohne Auto und Fernseher komplett war. Ich lebte in einer guten Zeit. Meine Eltern waren in der schlechten Zeit Kinder gewesen. Ich teilte nicht ihr Vergnügen an einer Wohnung, die nicht um die Jahrhundertwende mit Versorgungs- und Dienstbotentrakt und einem Lastenpaternoster für Bürger gebaut und später umgebaut und geteilt worden war. Die Zweckmäßigkeit der nagelneuen Zwei-, drei- und Vierzimmerwohnungen bescherten den Erstbeziehern Kinoerlebnisse, die wir (die erste Generation Siedlungskinder) nicht begriffen. Es wurde noch gebaut, die Zufahrtswege waren verschlampt und die eingesessene Bevölkerung und deren Kinder waren ungnädig. Überall lauerte Gefahr. Das eigene Klo half da auch nicht weiter. Noch fuhren viele mit dem Fahrrad oder dem Bus zur Arbeit. Armut und Vollbeschäftigung schlossen sich nicht aus. Egalitärer als damals wurde es in meinem Leben nie mehr. Frau Hein hieß schließlich Frau Dell. Herr Dell war Reisebusfahrer und Kettenraucher. Herr Dell reagierte allergisch auf die SPD, unterschied aber zwischen Person und Partei. Persönlich war ihm mein Vater sympathisch. Zehn Jahre heckten die beiden gemeinsame Urlaube aus, von der ersten Bustour in den Schwarzwald über die erste Urlaubsfahrt mit Herrn Dells eigenem Auto an den Edersee bis zum Dauerbrenner Italien, wo manchmal zehn Siedlungsfamilien auf einem Fleck klumpten. Die Väter waren von ganzem Herzen Kolonne-Fahrer. Die Geruchsmischung aus Sonnenmilch, Rasierwasser und Zigarettenrauch gehört zu meinem ewigen Bestand. Das Camel-Filteruniversum („Ich gehe meilenweit für eine Camel Filter“), die HB-Werbung („Wer wird den gleich in die Luft gehen“), die Störgeräusche im Autoradio, die selbstbewusst falsche Aussprache von High Fidelity, abschätzige Randbemerkungen über ausländische Kollegen …
© Jamal Tuschick 2024-09-03