Raga

Susi Hadry

von Susi Hadry

Story
2023

Trotz großer Bemühung konnte ich ein Schluchzen nicht unterdrücken. Die ersten zwei Stunden, seitdem ich mich ausgesperrt hatte, hatte ich die Ruhe bewahrt, mich auf den Rasen im Hinterhof gesetzt und Ausschau nach meinem Mitbewohner gehalten. Ohne Geld und Handy hatte ich auch nicht viele andere Möglichkeiten. Fleißig baute ich Gänseblümchenketten und versuchte meinen hungrigen Magen zu ignorieren. Mit vier hohen Wohnhäusern voller Wohnungen gab es viele Menschen, die ein und aus gingen an diesem Nachmittag, welche mich jedoch kaum bemerkten.

Nach drei Stunden begann die Panik in mir aufzuwallen. Heiße Tränen liefen mir über das Gesicht, als ich das Knarzen einer Jalousie hörte und eine Stimme: „Wie lange sitzt du jetzt schon da draußen, habibti? Komm schnell rein.“ Eine etwa 60-jährige Frau mit tiefen braunen Augen und langen schwarzen Haaren lächelte mich von ihrem Balkon im Erdgeschoss an. Da ich gerade wirklich nicht reden konnte, schwankte ich langsam zu ihrem Hauseingang auf der anderen Seite.

Sobald sich die Tür öffnete, sah ich bunte Teppiche den Boden bedecken, Bücher und Kerzen, da war es, als wäre ich Zuhause. An einem Ort, an dem ich noch nie gewesen war, fühlte sich mein Herz direkt wohl. Sie nahm mich in dem Arm und der leichte Duft von Rosen milderte sofort meine Panik. Plötzlich ganz ruhig gelangte ich in die Küche ihrer 40qm Wohnung. Klein und vollgepackt mit allerlei Gewürzen und eingelegtem Gemüse. „Ich mache dir erstmal einen Tee. Und hier, nimm etwas Süßes.“ Aus dem Nichts stand ein Teller voll mit Baklava, einen Augenblick später eine Tasse heißer Schwarztee vor mir und ich stürzte mich ohne Scham darauf.

„Ach, du hast dich ausgesperrt? Bei welchem Vermieter bist du denn, wir rufen da mal an.“ Zehn Minuten später hatte ich die Nummer von meinem Mitbewohner, welcher mir versicherte, innerhalb der nächsten Stunde Zuhause zu sein. Erleichtert sackte ich auf der Couch dieser lieben Frau zusammen. Bei einer zweiten Tasse Tee bedankte ich mich und sie sagte so viel, was ich nie vergessen werde.

„Ich komme aus dem Jemen, vor über 35 Jahren bin ich geflohen und nach Frankfurt gekommen. Immer schwer, das Leben ist immer schwer. Auch in Deutschland, mit den Akten und Formularen. Aber du musst alles geben, um Leben zu können. Um anderen helfen zu können, noch viel mehr.“ Wir sprachen über unsere Familien, ihre Augen waren in dunkle Schatten gelegt und ich spürte oft ein immenses Gefühl von Verlust im Raum. Mir wurde bewusst, dass alles Leid, was sie erlebt hatte, nicht bestimmt hatte, wer sie war. „Inzwischen arbeite ich seit über 15 Jahren als arabisch-deutsche Übersetzerin in Krankenhäusern in der Umgebung, auch sonntags und an Feiertagen“, sie lachte, „Mein Sohn ist beinahe erwachsen und jeden Tag finde ich neue Gründe, um dankbar zu sein. Wenn irgendetwas ist, kannst du mich immer anrufen.“

Sie reichte mir ein kleines Stück Papier, auf dem ihre Nummer stand und darunter ein Smiley mit ihrem Namen: Raga



© Susi Hadry 2024-11-28

Genres
Romane & Erzählungen