Ragu

Raphael Stompe

von Raphael Stompe

Story
Slums 2027

„Nein, nein, nein!“, rief er und schmetterte den Teller mit dem ‘wahrscheinlich-Ratten-Ragu-oder-was-auch-immer-Pawel-gefangen-hatte’, das ihre tĂ€gliche Speise war, auf den feuchten Steinboden. Pawel sah nicht auf. Er schob sich weiter ein StĂŒck nach dem anderen in den Mund. „Wie kannst du das essen?“, schrie sein gegenĂŒber wieder. “Das ist unmenschlich!” Pawel biss auf ein hartes StĂŒck und gab sich MĂŒhe, es krĂ€ftig durchzukauen. Kurz war er sich nicht sicher, ob es sich vielleicht um ein StĂŒck Leder handelt. Die ersten Ratten hatten Saschas verschmĂ€htes Mittagessen gefunden und stĂŒrzten sich fröhlich fiepend auf es. WĂŒtend trat Sascha die Nagetiere von seinem Essen weg, auch wenn es ihm nicht schmeckte, hieß das nicht, dass er es jemand anderem schenken wĂŒrde. Er baute sich vor Pawel auf, der seinen Blick noch immer kein StĂŒckchen hob. „Paw, wir werden heute wie Könige essen!“ Das hatte seine Aufmerksamkeit geweckt und Pawel hob den Blick, um Sascha anzusehen. Zufrieden lĂ€chelte Sascha, hob die Arme und schritt, fast königlich, durch ihr stinkendes Versteck. “Paw, die Zeiten der Demut sind vorbei. Ich bin es satt. Wir sind fĂŒr GrĂ¶ĂŸeres bestimmt. Er zeigte mit dem Finger zu Pawel, der, wie er verĂ€rgert feststellte, weiter aß. „Wir“, er ging einen Schritt auf Pawel zu „sind“, er nĂ€herte sich weiter „viel“, er ĂŒberbrĂŒckte den letzten Schritt, der sie noch trennte und hielt mit einem Finger Pawels Löffel davon ab, weitere RagustĂŒcke in seinen Mund zu verfrachten, “zu gut, um uns in der Kanalisation zu verstecken und diesen leidlichen Fraß hier zu fressen!“ Pawel versuchte weiterzuessen, aber Sascha hielt ihn mit eisernem Finger davon ab: „Pawel!! Steh auf!“ Pawel betrachtete seinen in der Luft stehengebliebenen Löffel, legte ihn zurĂŒck in die SchĂŒssel und stellte diese auf den Boden. Seufzend erhob er sich. „Paw, weißt du, was wir heute Abend machen?”, ohne auf seine Antwort zu warten, fuhr er fort. “Wir gehen an die Oberwelt! Wir zeigen unsere Gesichter dem Licht! Wir holen, was wir verdienen!” In Pawels Gedanken sah er Croissants. Er wollte immer schon Croissants essen. Zumindest einmal in seinem Leben. Wasser lief in seinem Mund zusammen. Er sah, wie sich eine Ratte seiner SchĂŒssel nĂ€herte und trat sie beilĂ€ufig zur Seite. „Wo ist deine Begeisterung, wo ist deine Freude?!“, donnerte Sascha und lief los. Pawel wusste, dass jede Widerrede sinnlos war und sah traurig zu seiner SchĂŒssel, der sich inzwischen drei vorsichtige kleine Kanalbewohner nĂ€herten. „Pawel! Komm jetzt endlich, wir haben keine Zeit!“ Der große, meistens stumme, beste und einzige Freund Saschas folgte ihm. Er verließ den Raum mit den schwarz-gefleckten WĂ€nden und den kleinen Lacken am Boden. ZurĂŒck blieb die pelzige Luft des Raumes. Sie schwang noch einige Minuten lang sanft im Klang der sich entfernenden Schritte, ehe sie vom freudigen Piepen unzĂ€hliger Nager erfĂŒllt wurde. Sie fragte sich, was Pawel und Sascha wohl vorhaben wĂŒrden. Doch weder sie noch die beschĂ€ftigten Ratten wussten es. Aber was es auch war – es war mit Sicherheit weltbewegend. Oder auch nicht.

© Raphael Stompe 2025-04-04

Genres
Science Fiction & Fantasy
Stimmung
Emotional, Inspirierend
Hashtags