Rapunzel: Teil 2

Shila Bli

von Shila Bli

Story

Rapunzel verbarrikadierte die Fenster mit Holzbalken, schnitt das Efeu mit den Messern ihrer Mutter von den Außenwänden ihres Turms. Sie schnitt sich die blonden Locken kurz. Haare, die einst ihre Knöchel berührten, kitzelten nun kaum ihre Ohren. Jede Strähne hatte eine andere Länge. Sie wollte jeden Zentimeter ihres Körpers, den er berührt hatte, vernichten. Unter der Dusche wusch sie sich dreimal, bis ihre Haut spannte und ihre Finger schrumplig waren, ihre Haut dunkelrot leuchtete und ihre Handflächen rau wurden. Er hatte “irgendwann” gesagt und nie “für immer”. Wo ein Schwur hingehörte, konnte er ihr nur ein Versprechen geben. Im Nachhinein konnte sie die Punkte zu einer Konstellation verbinden, die sie davor nicht erkannte. Seine Worte waren von Beginn an leer gewesen. Hüllen von Versprechen hatte er in ihrem Zimmer fallen gelassen. Leere Worte, die ihn in sie eindringen ließen, aber ihn nie wahrhaftig für sie öffneten.

“Du verstehst das nicht”, hatte er gesagt. Er schaute sie nicht an. “Ich habe Verpflichtungen. Ich bin der einzige Sohn- ”, Leo stoppte. Sie wusste, was auch immer nun folgen würde, war eine Lüge. Sie hielt den Atem an, versuchte den Schmerz zwischen ihren Rippen nicht all ihre Gedanken einnehmen zu lassen. “Du weißt, dass ich dich liebe. Wenn es meine Entscheidung wäre-”.Sie hörte ihn nicht mehr. Die Welt brach unter ihren Füßen zusammen und trotzdem musste sie noch stehen, musste lächeln, musste höflich nicken. Natürlich verstand sie seine Lügen. Sie verstand, dass sie nie seine erste Wahl gewesen war. Sie konnte doch nachvollziehen, dass er seinen Eltern keine Wahnsinnige, die noch nie den Wald verlassen hatte, vorstellen konnte. Er hatte einen Ruf. Verpflichtungen. Nicht so wie sie. Er war kein Kind der Einsamkeit.

“Aber ich kann dich ja trotzdem noch ab und zu besuchen, oder? Wir müssen das Ganze nicht für immer beenden?”

Mehr nicken, mehr lächeln. Alles, damit er nicht sah, wie die Tränen ihre Augen füllten und Verrat ihre Brust. Er würde heiraten und sie vergessen. Er würde sieben Kinder haben und sie würden ihn „Papa“ nennen und seine Kinder würden nie wissen, dass sie existiert hat. Sie würde ein Geist bleiben, in einem einsamen Turm, inmitten von Nichts. Und er würde sie vergessen.

Als er über das Fenster geklettert war, blieb er stehen, wartete auf ihren Kuss. Sie bewegte sich nicht, stand still über ihn.

“Sei doch nicht so”, strahlte er. “Nach der Hochzeit komme ich wieder! Gib mir einen-”

Ihr Messer schnitt durch das Efeu wie durch Blumenblätter. Scharf und präzise.

Er fiel. Er landete. Er bewegte sich nicht mehr.

Und trotzdem verschwand der Druck zwischen ihren Rippen nicht. Sie wusste nicht mehr, wie sie über die Zukunft nachdenken konnte, ohne ihn zu sehen. Ihn an ihrer Seite, ihre Hand haltend. Konnte nicht vergessen, wie er ihr Universum vergrößert und gesprengt hatte. Doch nun lag er deformiert und blutig auf der Wiese. Es gab keine Zukunft mit ihm – aber auch keine Zukunft mehr für ihn.

© Shila Bli 2022-08-31

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