von MISERANDVS
Dort, wo die alte Laterne ihr Funzellicht verstreut, dort, wo der Wind nicht mehr ganz so kalt pfeift, dort, wo der Regen mein Fell und die Lumpen, die mein Zuhause sind, nicht durchtränkt, dort liege ich … und träume.
In meinem Traum lauf ich über grüne Wiesen, durch warmen Sonnenschein. Ich spiele Fangen mit den Schmetterlingen. Ich grabe Löcher, weil mich ein neuer Duft verführt. Wasser trinke ich aus einer frischen Quelle, und der alte Lindenbaum raschelt für mich, wenn ich schlafe.
Müde heb ich meinen Kopf. Ich höre Schritte. Geh nur vorbei, wer immer du bist! Meine alten Augen funkeln dich böse an. Bleib nur nicht stehen! Komm mir nicht nahe! Geh weiter! Stör‘ meine Träume nicht! Sie sind alles, was mir geblieben ist.
Meine halbtauben Ohren hören eine Stimme sprechen. Ganz leise, ganz sanft, ganz warm. Was sie wohl sagen mag? Ich verstehe die Sprache der Menschen nicht. Ihr Geschrei tut mir in den Ohren weh, wie ihre Tritte, wenn sie mich verjagen. Doch diese Stimme ist leise. Ich höre den Klang. Er kitzelt mich an den Ohren.
Sanftwarmes Flüstern und eine Hand, die sich langsam nach mir streckt. Ich knurre böse. Schlag mich nicht! Wild fletsche ich meine Zähne, während die Menschenhand langsam näher kommt, um mir weh zu tun. Heiß fällt mein Schnauben auf weiße Haut. Zieh nicht an meinen Ohren! Pack mich nicht am Kragen! Nicht näher! Komm mir nicht nahe! Fass mich nicht an – sonst beiß ich dich!
Unter wütendem Knurren und zornigem Fletschen, durch wildes Kläffen und angstvolles Schnappen legt sie sich hin, die sanfte, warme Hand, streicht sanft über Ohren, krault lind mich im Nacken, fährt langsam durch’s flohzerbiss’ne Fell bis auf meine zitternde Haut. Und die Stimme, die warme, sie spricht zu mir sanft, Worte, die ich nicht verstehe, Sätze, die keinen Sinn ergeben. Pausen, in denen mein pochendes Herz sich beruhigt.
Menschenhände – wie anders fühlen sie sich an, wenn sie nicht faustgeballt mit einem Stock auf mich dreschen. Menschenaugen – wie schön sie sind, wenn sie nicht wutenbrannt gegen mich funkeln. Menschenworte – wie poetisch sie schwingen, wenn sie nicht aus heiseren Kehlen mir den Tod wünschen. Menschenduft – wie schön du riechst, wenn du nicht hassschwanger von schweißfaltigen Stirnen tropfst.
Sanft klingt die Stimme, wie sie mich lockt. Warm wirken Hände, die, mich rufend, auf Schenkel klopfen. Schön bist du, lieber Mensch, der mich einlädt, mit ihm zu gehen, durch meinen Tränenvorhang. Und ich drücke mich hoch, und ich spüre mein Herz, wie es pocht, wie ich mit dir gehen möchte, in dein Zuhause.
Ich blicke um mich, in die dunkle Gasse, in der die Funzelleuchte scheint. Ich riech den Gestank der Lumpen, auf denen ich schlafe. Ich spür den Regen, der mir das Fell langsam durchtränkt. Ich bin schon zuhause.
Und ich knurre, und ich kläffe, und ich heule jaulend dabei: “Verschwinde! Hau ab! Sonst beiß ich dich!” Ich bin nur ein räudiger Köter. In deine saubere Welt passe ich nicht. Geh bitte! Jetzt. Bevor du Hoffnung in mir weckst…
© MISERANDVS 2021-12-11