Raupe und Schmetterling

Story

Weiß die Raupe, dass sie einmal ein Schmetterling sein wird? Weiß der Schmetterling, dass er einmal eine Raupe war? Denkt die Raupe, die Verpuppung sei ihr Tod? Denkt der Schmetterling, das Schlüpfen aus der Puppe sei seine Geburt gewesen?

Wir wissen keine Antwort auf diese Fragen, und all unser Forschen und Denken, alle Wissenschaft und Technik werden niemals dazu führen, dass wir darüber Gewissheit erlangen, und genauso wenig werden wir wissen, woher wir kommen und wohin wir gehen. Das Material, aus dem wir bestehen, war schon da am Anfang aller Zeit. Es ist nur umgewandelt worden, bis wir daraus geworden sind, die wir hier und jetzt leben und die wir glauben, irgend etwas wissen und ergründen zu können. Was vor allen Zeiten war, was nach dem Ende aller Zeiten sein wird – schon allein die Verwendung von Vergangenheits- und Zukunftsformen ist absurd – werden wir nie erfahren. Nie wird es eine Sicherheit und einen Beweis geben, und damit müssen wir leben. Trotzdem hören wir nicht auf, uns darüber Gedanken zu machen. Und obwohl sich gescheite Leute und überhaupt wohl alle Menschen seit Jahrtausenden mit dieser Frage beschäftigen, sind wir der richtigen Antwort noch keinen Millimeter näher gekommen. Wir wissen nicht, ob wir Raupe, Puppe oder Schmetterling sind. Wir können nicht “hinüber” sehen, weder zurück noch nach vorne.

Ich bin kein spiritueller Typ und meine das Ganze auch gar nicht spirituell, transzendental, religiös oder esoterisch oder was es da noch für Ausdrücke gibt, sobald man sich in jene Sphären begibt, wo wir, wenn wir ehrlich zu uns selbst sind, uns nicht auskennen und nicht weiter wissen. Ich meine es durchaus real. Wir sind zu klein und eingeengt, um es jemals zu erfahren, und doch zwingt uns irgendetwas in uns, darüber nachzudenken. Dieser innere Drang ist uns vererbt von unseren Ahnen, denn sie alle haben daran gelitten und sich damit abgemüht.

Wir haben das Rad erfunden und später den Computer und was wir noch alles erfinden werden, das wüsste ich manchmal gerne, und manchmal bin ich froh, dass ich es nie erfahren werde. Aber wir können nichts erfinden, das nicht schon da ist in seinen Grundbestandteilen und -voraussetzungen. Wir können nichts denken und tun, das außerhalb unserer Welt liegt.

Doch jetzt zurück zu unserem Schmetterling, dem uralten Symbol für Wandel, Auferstehung und Neubeginn. Und einfach betrachtet, doch nichts anderes als ein Wesen von unbegreiflicher Schönheit, das so hinzunehmen und anzunehmen ist, wie es eben ist. Der einfachste Mensch, das kleinste Kind versteht genau so viel von dieser Schönheit wie der größte Gelehrte.

Am Ende steht, genau wie am Anfang, das Staunen, das ein weiser Dichter vor Jahrhunderten in Poesie verwandelt hat:

„Ich bin, ich weiß nicht wer.

Ich komme, ich weiß nicht woher.

Ich gehe, ich weiß nicht wohin.

Mich wundert, dass ich so fröhlich bin.“

Das mit der Fröhlichkeit wundert uns mittlerweile wohl am meisten. Und was die Fragen vom Anfang betrifft: Keine Ahnung.

© 2022-05-11