Realitätsabgleich

So_Yellow_

von So_Yellow_

Story

Zweites Date. Knapp zwei Monate später. In einer Fernbeziehung zählt man Tage. Jeden. Strichlisten werden zur Lebensaufgabe. Tägliche Telefonate und Nachrichten sind wichtiger als alles andere. Fast: sich zu sehen ist noch wichtiger.

Damit wir keine halben Sachen machen, beschließen wir: Fahrradtour, zelten, auf engstem Raum bei einem einwöchigen Roadtrip die Macken des anderen kennen lernen.

Wir fahren los. Ziel: die Ostsee. Er auf einem geliehenen Lastenfahrrad. Ich auf meinem Postfahrrad, dass ich mir auf der Arbeit borgen durfte. Die Sonne scheint. Wir sind verliebt. Fahren an Kanälen vorbei. An der Lüneburger Heide. Sehen Schafe. Blauen Himmel. Am Baum vor dem Zelt seilt sich ein Eichenprozessionsspinner herab. Wir fangen ihn ungläubig in einer Tasse und setzen ihn woanders aus. Nachts schlafen wir in einem winzigen Zelt in pinkfarbenen Schlafsäcken und kichern und reden, und lernen uns kennen, bis einer einschläft. Morgens gibt es schlechten Kaffee und Brötchen und Herzklopfen zum Frühstück. Arbeitsteilung: wer baut das Zelt auf? Ich. Wer schnarcht und holt Brötchen? Er.

Wir fühlen uns frei. Die Seeluft ist fast schon zu riechen. Mein Freund sieht zum ersten Mal die Ostsee und liebt sie. Überall sind Möwen. Füße im Wasser. Auf dem endlosen Steg liegen und in den Himmel gucken. Wir hatten Probleme unterwegs: einen Platten, einen verlorenen Schlüssel unter Holzdielen, die wir abschrauben mussten; auf dem Rückweg ein Lastenrad mit nur noch einem halben Platten, das nicht in den Aufzug des Bahnhofs passte; schmerzende Beine. Kein Streit, stattdessen Lachen und an Lösungen feilen. Wir schauten uns immer nur an, wenn etwas war und wussten, dass wir alles schaffen. Immer. Zusammen. Das zweite Date hat uns gefestigt. Er weiß mehr wie ich bin; ich weiß mehr, wie er ist. Die täglichen Telefonate vorher waren endlos. Der Realitätsabgleich hat auch nach einer Woche gepasst. Noch mehr. Wir sitzen noch einige Tage bei mir auf dem Balkon, im Café, in der Küche. Gehen spazieren und fassen es einfach nicht. Dass wir uns gefunden haben.

Ich bin sehr introvertiert und am liebsten alleine. Er ist der erste Mann, mit dem ich es 24/7 aushalte. Immer nah beieinander. Keine Möglichkeit, sich aus dem Weg zu gehen oder bei Ruhe aufzutanken. Er wurde zu meinem Ruhepol.

Dann fährt er. Ich winke dem Zug noch lange nach.

Wir waren nur Fahrradfahren und haben gegen den Küstenwind gekämpft. Haben nur Schafe gesehen, keine exotischen Tiere. Füße im Sand. Mit schweren Fahrrädern sind wir durch Wälder gefahren. Nachts hat der Wind am Zelt gerüttelt. Es war der schönste und beste Urlaub meines Lebens.

© So_Yellow_ 2020-04-23

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