von Patricia Nägele
Schon das zweite Mal an diesem Tag werden ihre Haare nass. Warum hatte sie es eigentlich für eine gute Idee befunden, vor der Unternehmung mit ihrer Schwester noch zu duschen? Ihr war doch bewusst gewesen, dass ein Unwetter naht und sie sich in eine Situation begeben würde, die höchst wahrscheinlich auch noch eine Dusche danach, zum Aufwärmen erfordern würde. Nun gut, ändern lässt sich das jetzt schließlich auch nicht mehr.
Der Regen prasselt vom Himmel, doch sie überlegt nicht, ob es vielleicht doch eine schlechte Idee gewesen sein könnte. Sie weiß einfach, dass nichts ihr in diesem Moment mehr Freude bereiten könnte, als mit ihrer Schwester durch den Regen zu streunen. Es tut ihr einfach so verdammt gut, sie an ihrer Seite zu wissen. Das Ziel, welches sie sich noch vor dem Aufbruch ausgesucht haben, würde bestimmt enttäuschend werden. In dieser Umgebung gibt es einfach wenig, außer Wald, Wiesen und vielleicht ein kleines Nachbardorf mit Eisdiele. Der Weg jedoch, durch diese Regenmassen scheint den beiden die ideale Unternehmung zu sein.
Für die Schwester, da sie hofft, die aufgeladene Schuld möge mit jedem Tropfen von ihr abfallen, wie die abertausend glitzernden Perlen, die so unaufhaltsam dem Boden entgegenrasen. Sie selbst hat Hoffnung, der graue triste Wolkenschleier würde den Nebel ihrer Seele in sich aufnehmen und sie von der tiefen Nacht befreien, die in ihr alles zu Ruhe gebracht hat. Und in der ersten Zeit des so spontanen Spaziergangs, in welcher der Regen so langsam die blonden Locken der beiden benetzt, scheint die Wunschvorstellung aufzugehen.
Sie sieht ihre Schwester neben sich gehen. Jeder Schritt bedacht, jeder Schritt fest und klar gesetzt. Sie kennt den Weg nicht, den ihre Schwester schon so oft genommen hat. Sie kennt ja nicht einmal den Namen der Ortschaft, die sie besuchen. Auch ist es ihr recht so, zu anstrengend den Weg zu suchen, zu dunkel, um ihn zu finden. Die Schwester jedoch sieht den Weg, nicht die Schlammspur, in die er sich verwandelt und die ihrem eigenen Gewissen doch so ähnlich sieht. Sie sieht ihre Schwester lachend zwischen zwei der dreckigen Pfützen hindurch balancieren, mit der Leichtigkeit des Windhauchs, der ihrer beiden durchtränkten Haare nichts anzuhaben vermag. Mit einem Lachen, welches die beiden Schwestern sich teilen. Erzeugt durch die Erinnerung, wie es klingen soll und geklungen hat, hören die beiden den Unterschied nicht.
„Ich könnte Stunden so laufen.“
„Mir wird kalt.“
© Patricia Nägele 2022-08-27