von Sonja M. Winkler
Gerne säße ich bei ihm in der Kajüte seines Schiffes und überließe mich dem Schaukeln auf dem Wasser. Er spräche von den Vorzügen eines naturverbundenen Lebens und käme geradezu ins Schwärmen, als er ansetzt zu einer Würdigung der krummen Linie. Dunkelbunt, der Verächter der Geradlinigkeit.
Ich stehe vor einem Hundertwasser-Bild und sehe Linien, Spiralen, Farbschichten. Kreise, die an Bullaugen erinnern. Er, der schon als kleiner Bub von Schiffen fasziniert war, verwirklichte später seinen Kindheitstraum, baute ein altes Holzschiff um und schipperte zehn Jahre lang mit seiner Regentag über die Meere und gelangte sogar bis nach Neuseeland, wo er im „Garten der glücklichen Toten“ seine letzte Ruhestätte fand. Friedensreich. Warum heißt es DIE Regentag? Warum sind Schiffe weiblich?
Den gestrigen Regentag nützte ich für einen Museumsbesuch. Es war mein erster seit Corona, und er weckte einige alte Erinnerungen. Ich habe das Gefühl, als befände ich mich in einem Labyrinth.
Als ich heute der Frage nachgehe und google, warum Schiffsnamen weiblich sind, zappelt plötzlich mein alter Studienkollege Franz P. im Netz. Danke Franz, sage ich innerlich, das altenglische etymologische Wörterbuch, das du mir 1978 zum Geburtstag geschenkt hast, hab‘ ich noch, samt Glückwunschkärtchen. Franz führt den weiblichen Artikel darauf zurück, dass „Schiffe als Gefäße, die beschützen und beherbergen“, seit undenklichen Zeiten mit Weiblichkeit assoziiert werden. Und Matrosen mit Männlichkeit, spinne ich den Faden weiter.
Mich wundert, weshalb die formale Ähnlichkeit unerwähnt bleibt, gleicht doch der Grundriss eines Schiffes frappant dem weiblichen Geschlechtsteil. Daraufhin konsultiere ich den Kleinen Stowasser und atme auf, lateinisch nāvis „Schiff“ ist weiblich, altgriechisch ναῦς detto: feminin. Logisch also, die REGENTAG, die TITANIC, die BISMARCK.
Hundertwasser, dessen ursprünglicher Name übrigens Stowasser war, war tatsächlich ein Nachfahre des Wörterbuchherausgebers. Ich staune immer wieder über die Geheimgänge in meinem Gedankenlabyrinth. It’s an amazing maze. Ich besäße sie übrigens gerne, eine der farbigen Jubiläumsausgaben des Lateinwörterbuches mit einem Leineneinband, vom Meister selbst entworfen.
Als ich gestern von Bild zu Bild ging, fiel mir ein längst vergessen geglaubtes Erlebnis wieder ein. Es war vor vielen Jahren, da zeigte ich einmal einer Freundin ein Acrylbild, das ich gemalt hatte, ein rot-oranger Farbwirbel, der von einer ungeheuren Zentrifugalkraft über den Bildrand hinausgeschleudert wird. Sie machte folgende Bemerkung: Nur traumatisierte Frauen malen Spiralen. Mich hat das damals ziemlich getroffen. Heute könnte ich kontern. Ich hätte Hundertwasser zitieren sollen: „Leben ist Bewegung, die sich in Spiralen entfaltet.“
Übrigens, die Regentag liegt in Tulln als schwimmendes Kunstwerk vor Anker. Ist vielleicht einen Besuch wert, an einem Sonnentag.
© Sonja M. Winkler 2020-06-01