Reisende soll man nicht aufhalten

Jakob Zitterbart

von Jakob Zitterbart

Story

Andere Menschen kannten einen oft besser als man sich selbst. Manchmal musste man Dinge eben geschehen lassen und sehen, was passierte. Immerhin hatte er gerade alles aufgegeben. Trotz seiner Existenzängste und der Panik, dass sein Leben künftig nicht besser, sondern noch schlimmer würde. Insofern hatte er nicht viel zu verlieren.

Außerdem würde der Rest der alten Clique auch kommen. Bis auf Anna, die immer schon die Mama der Gruppe gewesen war, waren alle single und wie durch ein Wunder konnten sich auch alle die nächsten Tage frei nehmen. Eine Reunion wie in alten Zeiten, nur mit besserem Wein.

Routiniert packte er seinen Hartschalenkoffer. In seinem alten Leben hatte er fast 90 Flüge im Jahr absolviert. Auf dem Flughafen angekommen, erkannte er sie sofort, die Business Travellers mit ihren Headsets, dunklen Trolleys und dem beschäftigten Blick. Überarbeitet, aber immer dynamisch und zielgerichtet. Nur noch ein paar Projekte vom nächsten Vielfliegerstatus oder dem Burnout entfernt. Warum zum Teufel konnte Paul nicht sein wie sie? Jene, die sich arrangierten und darin ihr Glück fanden.

Auf dem Flug wollte er sich eigentlich in den Ausdruck der ersten Seiten des Romans, den er vor langer Zeit begonnen, aber nie weitergeschrieben hatte, einlesen. Er hatte immer davon geträumt, Autor zu sein, aber es war eben immer was anderes gerade wichtiger. Wie konnte jemand wie er, der Personalverantwortung für 40 Leute und ein Millionenbudget zu verwalten hatte, nicht in der Lage sein, ein Herzensprojekt so zu priorisieren, dass auch tatsächlich etwas voranging?

Statt zu lesen, dachte er an Anna. Die wunderbare Anna. Fürsorglich, organisiert und unfassbar hilfsbereit, war sie das Mädchen gewesen, bei dem sie früher alle abgeschrieben hatten, die nach einer durchfeierten Nacht um sechs Uhr morgens in der Studentenwohnung den Herd anwarf, um für alle Pasta zu kochen, und auf die man zählen konnte, wenn es Notfälle aller Art zu lösen galt.

Mittlerweile war sie schon lange mit einem erfolgreichen Anwalt zusammen. Als er zum Partner befördert wurde, gab sie ihren Job auf, um mehr für ihn da zu sein. Und das war sie auch. Die perfekte Hausfrau und Freundin. Ferienhäuser einrichten, Anzüge aus der Reinigung holen, das Personal rumscheuchen und Partys organisieren. Sie ging in ihrer Rolle auf und lächelte selbst die spitzen Bemerkungen, die ihre Freunde ab und zu machten, einfach milde weg.

Nach außen war alles perfekt. So wie bei ihr immer alles perfekt war. Hätte sie die Wahl zwischen Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium oder einer peinlichen Situation in der Öffentlichkeit gehabt, Anna hätte sich zweifellos für den Pankreas-Tumor entschieden.

Das Flugzeug setzte zur Landung an. Paul schob sich die Sonnenbrille ins Gesicht und knöpfte einen weiteren Hemdknopf auf. Aussehen ist alles, Charakter kann ja jeder. Im Grunde war er wie Anna, nur eben finanziell nicht abgesichert.

© Jakob Zitterbart 2021-08-10

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