von CharlyPerik
Der Wecker läutet. Es ist 6.00 Uhr morgens. Am Anrufbeantworter blinkt das Licht. Eine Nachricht um diese frühe Stunde verheißt selten Gutes. “Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Mutter letzte Nacht verstorben ist,” Ein Schock!
Wer und wie war sie, seine Mutter?
Jeder hatte eine Meinung über sie. Sie war in vieler Hinsicht ein bemerkenswerter Mensch. Sie war sehr oft himmelhoch jauchzend, um manchmal plötzlich zu Tode betrübt zu sein. Meist war das Glas halb voll. Es war aber auch immer wieder halb leer. Sie hat intensiv gelebt. Wenn sie sich einer Sache verschrieb, dann hat sie das mit voller Hingabe, zuweilen bis zur Selbstaufgabe gemacht. Das konnte für Ihr Umfeld anstrengend sein. Sie war mit viel Enthusiasmus bei der Sache, oft mit missionarischem Eifer. Lob war ihr Nektar, Kritik begegnete sie mit Unverständnis und Verzweiflung.
Sie war ein Einzelkind, welches von ihren Eltern innigst geliebt wurde. Trotzdem war ihr Verhältnis immer wieder von Spannungen gekennzeichnet. In ihrer Ehe gab es schöne Phasen des gemeinsamen Aufbaus eines Lebens, aber irgendwann die Mühen der Ebene, die es in jeder Beziehung geben kann. Ihre Ehe hat diese Mühen nicht verkraftet. Die wahren Gründe für die Trennung hat sie nie ganz verstanden und nie akzeptiert.
Sie war ein Mensch der im Leben immer wieder etwas riskiert hat, vieles gewagt und ausprobiert hat. Sie hat sich nie gescheut Entscheidungen zu treffen. Dadurch hat sie viel erreicht und aufgebaut. Wer entscheidet, trifft aber auch manchmal eine falsche Wahl. Sie hat zu jenen Menschen gehört, denen das Schicksal oft sehr klar und zuweilen brutal vor Augen geführt hat, wenn eine Entscheidung falsch war. Das hat sie ängstlich und besorgt in die Zukunft schauen lassen.
Sie war nicht übermäßig religiös im katholischen Sinne. Sie hat aber fast typisch für ein echtes Wiener Mädel an die Gottesmutter und den Herrgott geglaubt. Sie war sich auch sicher, dass es jemanden gibt, der auf sie schaut.
Deshalb wollte sie immer mit dem Schicksal verhandeln. Das Schicksal aber war nie zu einem Handel bereit. Da sie aber ein „geht nicht“ nie akzeptieren konnte, wurde sie im Alter immer schwieriger.
Im Leben gibt es aber die zweite Chance. Und für sie ist sie gleich zweifach gekommen. Zeitgleich traten zwei Männer in ihr Leben, die ihre letzten Jahre sehr bereicherten. Der Eine, ein weltgewandter Charmeur, der ihr unvoreingenommen seine Freundschaft anbot. Sie ist durch ihn wieder erblüht. Der Andere, mit breiten Schultern und von tiefer Gelassenheit. Sie ist durch ihn erwachsen geworden. Sie teilten so viele Gemeinsamkeiten, dass sie wie ein Paar wirkten, welches seit vielen Jahrzehnten zusammen durchs Leben ging. Die Tatsache, dass der plötzliche Tod viele weitere schöne Gemeinsamkeiten jäh verhindert hat, macht unendlich traurig.
Aber in der Rückschau war alles gut, so wie es war. Er ist froh und dankbar sie so erlebt zu haben, wie sie war.
Traurig geht er an sein Tageswerk.
© CharlyPerik 2020-11-30