von Susann Gersten
Sie wusste es in dem Moment, als sie ihn oben auf dem Kirchenbalkon stehen sah:
„Das ist der Mann, den ich einmal heiraten werde.“ In diesem Augenblick vergaß Madlen, dass es sich um den Bruder ihres Freundes Philip handelte – und dass dieser Mann da oben gerade frisch verliebt war. Tom hieß er. Elektrotechniker. Und sie, Madlen, war Mediendesignerin, die hin und wieder Paare fotografisch an ihrem großen Tag begleitete. Tom hatte – wie auch sein Bruder Philip – eine große Liebe zur Fotografie. Wir waren ein Dreiergespann, das etwas Tiefes verband: die Leidenschaft für Bilder, für Natur und für gemeinsames Unterwegssein. Wenn Madlen, Tom und Philip zusammenkamen, blieb die Zeit stehen. Jeder Ausflug wurde zum Abenteuer. Das ist nun über zehn Jahre her. Vor etwa acht Jahren trennten sich ihre Wege. Sie leben noch immer in derselben Stadt – und sind sich seither nie wieder begegnet. Mit Philip hat Madlen keinen Kontakt mehr. Die Trennung kam plötzlich doch endgültig. Erst danach wurde ihr klar, was sie all die Zeit nicht hatte fühlen dürfen. Ihr Herz war verwirrt. Und eine Frage blieb bis heute: „Was wäre gewesen, wenn…?“
Doch lasst uns von vorne beginnen. Madlen war fĂĽr einige Jahre mit Philip, dem älteren der beiden BrĂĽder, zusammen – Höhen, Tiefen, alles gehörte dazu. Als sie sich kennenlernten, lernte sie auch Tom kennen. Und Jasmin, die sĂĽĂźe kleine Schwester der beiden Starkmänner, wie sie sie heimlich nannte. Das erste Mal „traf“ sie auf Tom an einem Sonntag im April. Madlen und Philip waren bei seinen Eltern zum Kaffee eingeladen. Die Sonne schien mild, die FrĂĽhlingsblumen reckten sich dem Licht entgegen. „Ding Dong.“ Madlen war aufgeregt, schlieĂźlich wĂĽrde sie heute zum ersten Mal Philips Mutter begegnen. Doch ihre Nervosität verflog im Moment der Begegnung: Carola, Philips Mutter, öffnete die TĂĽr, strahlte sie an und schloss sie sofort in die Arme. Ein Stein fiel ihr vom Herzen. So viel Wärme hatte Madlen lange nicht gespĂĽrt. Es duftete nach frischem Kuchen und Kaffee. Das Wohnzimmer war liebevoll eingerichtet – warme Farben, viel Terrakotta, Licht strömte durch die BalkontĂĽr. Eine groĂźe Zimmerpflanze wuchs in der Ecke, ein Hund und eine Katze schlenderten durch die Zimmer. Während Philip mit seiner Mutter in der KĂĽche verschwand, blieb Madlen allein im Wohnzimmer zurĂĽck. Ihr Blick wanderte suchend umher. Sie betrachtete alles – und dann fielen ihr die Bilder im Schrank auf. Sie trat näher, studierte jedes einzelne. Bilder sagen oft mehr als Worte. Und Madlen wollte so viel wie möglich ĂĽber Philip erfahren. Dann sah sie es: ein kleines Foto, vielleicht 13 x 18 Zentimeter. Drei Personen. Philip, eine junge Frau – und ein weiterer junger Mann. Madlen blieb daran hängen …Sie konnte nicht aufhören, das Bild anzusehen… Besonders diese eine Person in der Mitte hatte es ihr angetan. „Philip, wer ist das?“, fragte sie schlieĂźlich leise, ohne den Blick vom Bild abzuwenden. Er trat neben sie, warf einen flĂĽchtigen Blick auf das Foto und zeigte mit dem Finger darauf. „Oh, das sind meine beiden jĂĽngeren Geschwister Jasmin – und er da ist Tom.“
Fortsetzung Teil II in meiner Story…
© Susann Gersten 2025-05-16